Dienstag, 13. Januar 2004

Die Museumsinsel

Die Musiker im Parque Central haben ihre Instrumente wieder eingepackt. Der zahnlückige Bauer hat seinen Pferdekarren mit Mandarinen, Ananas und selbst gemachter Guavenmarmelade von der Straßenecke weggeschoben, die alte Näherin ihre Tretmaschine mangels Licht von der Haustüre ins Innere der Wohnung verfrachtet. Es dunkelt in den Gassen Trinidads, die Pastellfarben der Kolonialhäuser sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Vom Kopfsteinpflaster hallen die Schritte vereinzelter Nachtschwärmer wider. Nur im "Casa de la Trova" ist Leben, dort spielt eine Gruppe aus der Stadt kubanischen Son.

Hinter der Bar steht Silvio Santoz, Schweißtropfen perlen auf seiner Stirn, und er schiebt seine Brille zurecht. Wie es sich in einem Museum lebt? Der Chef der staatlichen Musikkneipe lässt viel Zeit verstreichen. Dann nimmt sein spindeliger Körper Haltung an. Er räuspert sich und antwortet mit Ernst und Getragenheit: "Das ist die Aufgabe, die uns die Revolution gestellt hat."

Tourismus-Minister Ibrahim Ferradaz hätte die Antwort vermutlich gefallen. Der Tourist, sagt Ferradaz beim Interview, soll auf der karibischen Insel internationalen Standard finden, sich aber immer daran erinnern, dass er auf Cuba weilt. "Wir wollen kein kaltes Museum werden." Aber ist die Insel nicht längst ein Museum? Dort lässt sich eine Staatsform besichtigen, die nur noch in wenigen Ländern existiert. Dort erhalten sich Häuser und Autos aus einer Zeit, deren Spuren sich anderswo längst verloren haben. Und wird nicht zuletzt das mangels Geld erhaltene Alte an manchen Stellen wie in einem Museum herausgeputzt? Das gilt für die alten amerikanischen Schlitten ebenso wie für die Häuser in der Weltkulturerbe-Stadt Trinidad oder in der Altstadt Havannas, die denselben Status genießt.

An der Plaza Vieja etwa schmücken sanierte Häuser aus dem 18. Jahrhundert mit frischem Anstrich ein Karree mit Brunnen, Palmen in Tontöpfen und abstrakten Figuren aus korrodiertem Stahl. Eine Fotogalerie verkauft Kalender mit historischen Bildern der Revolutionäre. In der "Taberna de la Muralla" blitzen Kupferkessel der österreichischen Brauerei Salms, der luftige Gastraum soll aussehen, als hätte Hemingway schon dort gespeist. Störend in der Museumslandschaft der Plaza Vieja wirken allenfalls zwei nicht restaurierte Gebäude, die davon künden, wie der größte Teil der Stadt nach wie vor aussieht. An deren Eingangstür sitzen zur Mittagszeit Jaime Garcías und Reinaldo Zamora und schauen durch hölzerne Stützpfeiler dem Treiben des Vogelhändlers und den Kindern zu, die auf dem Platz Murmeln spielen.

Viel mehr als das Treiben dort beschäftigt die beiden Männer jedoch, was in ihren Häusern vor sich geht: Dort brechen Handwerker Mauern nieder, sie legen verkohlte Holzbalken frei, lassen illegal eingezogene Zwischendecken einstürzen und bereiten so die Sanierung vor. Um in seine Wohnung zu gelangen, muss García durch die Wasserlachen auf der nachtschwarzen Treppe tappen, über Bauschuttberge steigen und aufpassen, dass er nicht in den ungesicherten Innenhof fällt, der den Blick auf den Himmel und die Löcher in den Dachplatten gegenüber freigibt.

Er sperrt die Holztür auf. Seit 40 Jahren wohnt er in dem Schlauch, der sich hinter dem Eingang auftut. Klo und Küche sind durch schulterhohe Stellwände notdürftig abgetrennt. "Ist es nicht schön hier? Groß, hoch, luftig und dunkel", sagt García wehmütig. Ihm bleiben noch 20 Tage bis zum Auszug. Für die Sanierung Havannas wird Haus für Haus umgesiedelt, in ein Viertel weit außerhalb des Zentrums. Nicht alle Bewohner dürfen zurück. Während sich andere über die neuen Wohnungen mit den Annehmlichkeiten moderner Bauweise freuen, sieht sich García ausgesperrt aus seinem bisherigen Leben. Sein früherer Nachbar Zamora kommt noch jeden Tag von seinem neuen Zuhause zur Plaza Vieja, seinem eigentlichen Wohnzimmer.

Orestes del Castillo kennt die Klagen, er berät Stadthistoriker Eusebio Leal und die Architektenkammer beim Umbau Havannas in ein Freiluftmuseum. Allein im Zentrum der Hauptstadt verrotten 3500 Häuser. Darin leben etwa 22 500 Familien - in der Mehrzahl ohne fließend Wasser, unter kaputten Dächern und ohne sanitäre Anlagen. Im Durchschnitt fallen alle drei Tage zwei Häuser unter der Last ihrer Geschichte, des Klimas und der Verwahrlosung zusammen. "Wir tun unser Bestes, die Menschen hier zu halten", sagt Castillo. "Wir brauchen sie im Zentrum, um es lebendig zu halten." Deshalb setzt der Masterplan für die Sanierung aus dem Jahr 1994 das ehrgeizige Ziel, nicht nur die Bausubstanz zu erneuern, sondern auch internationalen Handel und hochwertiges Kleingewerbe in die Straßen zu holen - und damit nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Leben. Und schließlich sagt Castillo den selben Satz, den der Minister so betonte: "Wir wollen kein totes Museum werden."

Auf Cuba präsentiert sich nicht nur städtebauliches Kulturgut. Auch der Sozialismus grüßt von den Wänden. Touristen kommen nicht umhin, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass sie nicht über irgendeine karibische Insel reisen. "Nein zum Faschismus" verkündet eines der vielen überlebensgroßen Propagandaplakate. Es zeigt Georg W. Bush mit Hitlerbärtchen. Daneben die bekannten Sprüche von Sozialismus oder Tod. Kommerzielle Werbung fehlt hingegen fast völlig.

Selbst in einem All-inclusive-Hotel auf der Touristen-Halbinsel Varadero trifft man Leute wie den Kneipenchef Silvio Santoz, die die Aufgaben erfüllen, die ihnen der Sozialismus aufgibt. Der Ober, der den beiden hausfremden Gästen auf der Flucht vor einem tropischen Regenguss Kaffee serviert, nimmt das Trinkgeld erst dann, als es für die Sozialkasse bestimmt wird.
Er trägt die Guayabera, auch eine Art Museumsstück. Das karibische Hemd soll im Cuba des 18. Jahrhunderts seinen Ursprung haben. Es wird leger über der Hose getragen, ohne Krawatte. Die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts vereinnahmten es als Symbol im Kampf gegen die Spanier. Hemingway zeigte sich damit, es kleidet Fidel Castro. In den USA gilt das Hemd im Retro-Design inzwischen als schick, auf der Insel ist es nicht mehr so häufig zu sehen. So steht der Sicherheits-Bedienstete desselben Hotels geschniegelt mit Anzug und Krawatte am Strand. "Das hätte es früher nicht gegeben, Anzug hat hier niemand getragen", stellt Gioacchino Cinquegrani fest. Es klingt resigniert.

Der Sizilianer gehört zu denen, die in einem neoliberalen Deutschland als Sozialromantiker firmieren und deren Herz für die Zuckerinsel schlägt - auch deshalb, weil sich der Zwerg Cuba schon seit Jahrzehnten nicht unterkriegen lässt vom alles dominierenden Nachbarn USA und seiner Blockade. Die Symphatisanten sind zwar weniger geworden, seit Fidel Castro im vergangenen Frühjahr 75 Oppositionelle zu hohen Haftstrafen verurteilen ließ und drei Menschen hingerichtet wurden, die versucht hatten, ein Fährschiff nach Miami zu entführen. Cinquegrani aber verteidigt das System in seiner Gesamtheit - mit soviel Charme wie Beharrlichkeit.

Seit zwei Jahrzehnten lebt er zwar in Deutschland, aber er ist herumgekommen in Lateinamerika. Als Dreißigjähriger tauschte er seinen Job als Maschinenbauer gegen einen kärglichen Lohn ein, um den Sandinisten beim Umbau Nicaraguas zu helfen - bis die Contras die Wahlen gewannen und damit viele Hoffnungen auf eine bessere Welt begruben. Jetzt, 15 Jahre später, wirbt Cinquegrani in Deutschland für Tourismus auf Cuba. Für ihn sind die verurteilten Dissidenten eher Gesetzesbrecher. Er verteidigt das kubanische Blockwartsystem als Form der Nachbarschaftshilfe und setzt das beliebte Argument dagegen, dass das Bildungs- und Gesundheitssystem auf Cuba für lateinamerikanische Verhältnisse hervorragend sei.

Jemand wie er findet sofort den richtigen Ton im Gespräch mit dem gelangweilten Nachtdienst-Apotheker in der Altstadt Havannas, den Tabakbauern in Viñales oder dem Zigarrendreher in der Partagas-Fabrik, an dem sich täglich hunderte von Touristen vorbeischieben. Dass sie dabei gewissermaßen als lebende Ausstellungsstücke firmieren, versuchen viele Kubaner mit Stolz zu nehmen - wie Jaime Garcías an seinem Beobachtungsposten an der Plaza Vieja. Der Alte sagt selbstbewusst: "Havanna hat sich sehr verändert. Es ist ein Museum, aber ein sehr schönes und lebendiges." Über Trinidad sagt den gleichen Satz Aracely Reboso Miranda, Englischlehrerin und Besitzerin einer kleinen Privatherberge. Sie erklärt ihren Gästen aus Europa und Amerika auf der luftigen Dachterrasse gern die Details des Systems, seine Tücken und Lücken. Sie weiß um die Vorteile, in einem Museum zu leben. Die Besucher bringen Geld.

Es hat sich zwar einiges verändert seit der Öffnung für den Massentourismus in den 90ern, der Zulassung von Gewerbebetrieben in mehr als 100 Berufen und der Legalisierung der Dollar-Schattenwirtschaft. Aber immer noch regiert der Mangel, der seit dem Zusammenbruch des Ostblocks das Leben bestimmt. Der einseitige Zugang zur US-Währung, für die zu haben ist, was es für Pesos nicht gibt, spaltet das Land. Der Schriftsteller Pedro Juan Gutíerrez, wahlweise auch als Pornograf beschimpft, zeigt das Elend in seinen Büchern: Hunger, Schmutz und das Lebensgefühl permanenter Vorläufigkeit. Der Schauplatz seiner Romane ist die zerfallende Altstadt Havannas, wo sie noch nicht Museum ist und ein zynisches, abgebrühtes, verzweifeltes Lumpenproletariat haust. Es fehlt an Arbeit, Wohnraum, Essen, Wasser. Jeder überlebt, wie er kann. Kleinhandel, Schmuggel, Diebstahl, Prostitution, Alkohol, Gewalttätigkeit sind der Alltag dieser brutalisierten Unterschicht.

Davon will Cinquegrani aber nichts wissen, er spricht lieber von "Armut in Würde". "Der muss ja nicht hier leben", erzürnt sich hingegen Odony Acosta. Der Habanero erzählt von seinen zwei Brüdern, einem Arzt und einem Ingenieur. Er unterstützt sie mit den Trinkgeldern, die er im Tourismus verdient. Dann zeigt Acosta das speckige Lebensmittel-Heftchen, das seine Familie beim Einkaufen vorlegen muss. Die libreta mutet an wie ein Museumsstück, ist aber Existenzgrundlage für jeden Kubaner. Allerdings gibt es kaum einen, der sich von den offiziellen Rationen oder seinem Peso-Gehalt satt essen kann und nicht ständig damit beschäftigt wäre, zumindest ein paar amerikanische Dollars zu ergattern - wenn er nicht gerade Schlange steht an der Bushaltestelle, der Lebensmittelausgabe oder irgendeiner Behörde.

So wird der Wunsch nach weiterer Veränderung auch im Land zunehmend lauter. Eine Initiative sammelte vor zwei Jahren 11 000 Unterschriften für ein Referendum und forderte Reformen. Daraufhin rief Castro zur Volksabstimmung und ließ den Sozialismus in seiner musealen Form in der Verfassung festschreiben. Weitere Änderungen im System wird es also unter ihm nicht geben. Dabei sollte ein Museum idealerweise das Bestehende auch neu ordnen. Wenn es nicht ohnehin anders kommt, wäre dies wohl Aufgabe des nächsten Museumsdirektors.