Mittwoch, 30. Mai 2007

Lima im Mai

„Du musst einen Rock anziehen“, hatte Hilde gesagt. Den Rat kapiere ich erst, als mich die junge Wachfrau in die schummrige Umkleidekabine Größe XS winkt.

Dort beginnt das Mädchen in Uniform, zaghaft in meiner Tasche zu kramen. Sie fischt ein Tampon heraus, schaut das weiße Ding auf ihrer Hand von allen Seiten an, dann mich. „Was ist das?“ Ich fühle mich veräppelt. „Na ja, wenn Du die Regel kriegst.“ Sie schaut wieder dieses Ding in ihrer Hand an. „Ach, das ist ein Tampon?“ Sie legt es zurück. Dann kommen die Anweisungen: Mantel ausziehen, Pullover hoch, T-Shirt hoch, BH hoch, Rock hoch. Sie schaut lange meine knallbunte Unterhose an. Ich muss sie nicht runterziehen. Stattdessen einmal umdrehen, fertig. Ich ziehe mich wieder ordentlich an, greife nach den fünf Plastiktüten und stürme raus. Also eigentlich rein. Ins Gefängnis Sarita Colonia in Callao. Ein Männergefängnis.

Dorthin begleitete ich Hilde. Sie lebt seit acht Jahren in Lima und war von einer Schweizerin gebeten worden, dem Bruder Winterklamotten ins Gefängnis zu bringen. Ein Wochenendausflug sozusagen, am Frauenbesuchstag.

Er begann im Staub vor der Knastmauer mit Schlangestehen. Schlüssel und Handys sind drinnen nicht erlaubt, die geben wir gegen Gebühr bei einer Marktfrau in der Nähe ab. Dann reihen Hilde und ich uns zwischen all die anderen Frauen, die wie wir Unmengen von Tüten mit Essen und Kleidung mitgebracht haben. „Und wofür sitzt Deiner ein?“, das ist so die Eröffnungsfrage für einen Plausch. Nach einer Stunde sind wir bis zum Eingang vorgerückt. Ausweis vorzeigen und Ärmel hochkrempeln – für zwei Stempel und eine Unterschrift auf dem Unterarm. Hinter dem Eingang kringelt sich die Frauenschlange in einem kleinen Raum um eine Autoreparaturgrube. Am anderen Ende: Ausweis abgeben. Wir bekommen eine Nummer neben die zwei Stempel auf den Unterarm. Noch eine Tür. Dahinter Gepäckkontrolle: fünf Wachmänner an einem Tresen. Geschrei, Gedrängel und Gekeife.




Unsere zwei Wachmänner öffnen jede Tüte, holen alles heraus, entfalten jedes T-Shirt, jedes Paar Socken, den Schlafsack, öffnen die Kekstüten, alles, was Hilde für den Häftling eingekauft hat. Dann sehen sie die Stange Zigaretten. „Zehn Schachteln? Das ist nicht erlaubt“, erklärt der Ältere. „Aber wir sind doch zu zweit”, sagt Hilde bittend. „Nein, das ist viel zu viel“, raunzt er zurück. Schaut auf die Schachteln. „Also, vier darf jede mit reinnehmen.“ Gibt Hilde vier Schachteln, nimmt nochmal vier in die Hand für mich – und legt dann doch noch eine fünfte obendrauf. Ohne Erklärung.

Wir packen alles wieder ein und warten vor der Umkleidekabine auf die Körperkontrolle. Als ich da rausstürme, bin ich wirklich drin im Knast.

Wir marrschieren durch schmale Gänge zwischen hohen Metallgitterzäunen. Als uns die Männer im Pavillon für Ausländer und Drogendelikte sehen, herrscht sofort Aufregung unter ihnen. Wir warten am Eingang, bis der Schweizer herauskommt und uns mitten durch den Pulk hindurch in den betonierten Innenhof führt. Dort sitze ich bestimmt schon eine Viertelstunde an einem kleinen Holztischchen, als ich mich zum ersten Mal traue, den Blick vom Boden zu heben und mich umzusehen. Ich komme mir vor, als säße ich nackt da.

Hans dürfte Mitte fünfzig sein. Er ist dürr und sieht aus wie einer, der eine Drogenbiografie hat und krank ist. Sie hatten ihn mit einem Koffer voller Koks am Flughafen in Lima erwischt. „Meine Geschäftspartner hatten nicht sauber gearbeitet“, sagt er. Er war schon öfter als Kurier für einen Schweizer Drogenring unterwegs gewesen. Von dem Geld wollte er sich diesmal die Zähne reparieren lassen. Aber nun sitzt er seit einem halben Jahr ein. Sieben Jahre gab ihm der Richter, und Hans hofft, dass er in anderthalb Jahren wieder rausdarf.

Das Gefängnis Sarita Colonia ist nicht das heftigste in Peru, es ist nur zu 208 Prozent überbelegt, und die ganz schweren Fälle kommen woanders hin. Im Pavillon für Ausländer mit Drogendelikten gibt es mehr als hundert Häftlinge und exakt sechs Zellen. Für ein Bett in einer Zelle verlangen die Wächter achthundert Dollar. Hans hat das Geld nicht, er erkaufte sich einen Platz im Gang, der ist billiger. Dort schläft er auf dem Boden. Knast ist Kapitalismus. Wer Geld hat, kriegt alles: Drogen, Essen, Alkohol, Zigaretten, Fernseher, Bett, Stuhl, Klamotten, sauberes Wasser, Seife, Waffen. Wer Geld hat, kann im Innenhof eine Garküche aufmachen. Es gibt zwei davon. Die Lebensmittellieferungen übernehmen die Wachleute. Die verdienen offiziell 200 Euro pro Monat. Das reicht für eine Familie nicht mal, wenn sie nur in einer Bretterbude lebt.

Die Häftlinge kommen aus allen Ecken der Welt: Europa, China, Afrika, Lateinamerika, Nordamerika, Australien, Neuseeland. Besuch haben nur wenige. 80 Prozent konsumieren selbst Drogen. Die Männer wählen regelmäßig ein dreiköpfiges Komitee. Das ist für die Ordnung im Pavillon zuständig. Wird einer beim Klauen erwischt, muss er sich nackt ausziehen, im Innenhof auf einen Tisch klettern, und die anderen schlagen mit Stöcken zu. Die letzte Schießerei unter Häftlingen in Sarita Colonia passierte im Dezember. Es starben fünf Menschen. Eine eigene Welt. Ich bin froh, als ich nach zwei Stunden wieder rausdarf. Körper- und Gepäckkontrolle entfallen diesmal. Und die Marktfrau rückt ohne Umstände Schlüssel und Handy raus.

Das zeigt einen Anruf vom Einsatzleiter meiner Behörde an. Mir wird ganz heiß. Habe ich den Einsatz verpasst? Nein, es war nur ein Kontrollanruf. Der Einsatz beginnt zwei Tage später. Montagmorgen sechs Uhr stehe ich bei Dunkelheit mit siebzig Kollegen im Lokalbüro der Defensoria im Osten der Stadt. In einem Viertel, in das man besser nicht geht. Jeder trägt die blaue Jacke mit dem Logo der Behörde und hält einen gelben Umschlag in der Hand. Darin die Notausrüstung gegen Tränengas: zwei Flaschen Wasser, Gummihandschuhe, Gazéstreifen. Für Essig hat´s offenbar nicht mehr gereicht.

Als meine Oberchefin hereinwatschelt, gibt es Lagebesprechung. Und plötzlich überschreit einer den Nachrichtenmoderator aus dem Fernseher: „In drei Minuten stürmt die Polizei das Gelände, los, sonst kommen wir zu spät!“ Ich springe mit sechs meiner Kollegen in einen Kleinwagen, in dem schon der Chauffeur sitzt. Als wir den ersten Absperrring mit mehreren Hundertschaften hochbewaffneter schwarzgekleideter Polizisten passieren, wird mir mulmig. Wir sind die Aufpasser. Wir sollen verhindern, dass Menschenrechte verletzt werden, dass Leute ungerechtfertigt festgenommen oder gar verschleppt werden, sollen Kinder und schwangere Frauen versorgen, Verletzte zählen. Na ja, und auch die Toten.

Insgesamt sind viertausend Polizisten im Einsatz. Sie sollen ein 82 Hektar großes Gelände räumen. Das hat die Regierung in den sechziger Jahren enteignet, um einen Großmarkt darauf zu bauen. Vor fünf Jahren, auf dem Grundstück war immer noch nichts passiert, besetzten mehr als tausend Markthändler aus allen Teilen Perus das Gelände. Es waren aber nicht die Händler, für die der neue Markt bestimmt war. Die Stadt strengte einen Prozess gegen sie an, und im April dieses Jahres bekam sie in zweiter Instanz Recht. Die Händler weigerten sich, freiwillig zu gehen und holten Verstärkung. Nach Schätzungen hielten sich zwischen 2000 und 10.000 Menschen auf dem Gelände auf. Von Kindern als menschliche Schutzschilde war die Rede. Der Anführer, der für viel Geld die Marktstände an Gutgläubige verkauft hatte, erklärte: „Nur tot verlasse ich dieses Grundstück.“ Die Stadt verweigerte jede Verhandlung. Was Recht ist, muss Recht bleiben. Da unterschrieb der Richter den Räumungsbefehl.

Alle erwarteten ein Blutbad. Deshalb gab es schon vor dem Einsatz Druck auf die Polizei. Der Innenminister verfügte schließlich, dass die meisten Einheiten keine Waffen mitnehmen durften. Eine Gruppe weiblicher Polizisten mit weißen Handschuhen war abgeordnet worden, sich um Frauen und Kinder zu kümmern. Den Leuten war schon ein paar Tage zuvor Wasser und Strom gesperrt worden, die Polizei hielt das Gelände unter Dauerbeschallung und darüber kreisten ununterbrochen Hubschrauber. Nicht wenige der Händler hielten es da schon nicht mehr aus und waren kurz vor der Räumung heimlich geflüchtet.

Der Einsatz selbst dauerte nur ein paar Stunden. Gegen Mittag kehrte ich müde in das Lokalbüro der Defensoria zurück. Ich hatte mir von weinenden alten Frauen ihre Geschichte erzählen lassen, Beschwerden über Polizisten entgegengenommen, im Auftrag meines Einsatzleiters zwei Dutzend Journalisten ein Interview über den Auftrag der Defensoria gegeben (ich war gerade die einzige an dem Fleck, an dem sich die gesamte Presse versammelt hatte), die Arbeit von Polizisten beobachtet, die Zahl der Händler notiert, die aus dem Gelände kamen. Meine Kollegen hatten Verhaftungen verhindert, Kinder aus Tränengaswolken geholt, Polizisten vom Plündern abgehalten. Die Bilanz: 18 Verhaftete, 12 Verletzte, keine Toten, kein einziger Schuss. Der Präsident und der Innenminister und die Polizei und die Zeitungen und die Defensoria feierten: ein Erfolg. So eine gewaltlose Räumung hatte es in Peru noch nie gegeben – trotz der Unmengen von Tränengas.

Für Polizei und Stadt und Zeitungen ist der Konflikt seither vorbei. Um die geräumten Menschen, die zum Teil auf dem Gelände gewohnt hatten, kümmert sich niemand mehr. Sie schlafen jetzt in einem Park. Von den Problemen, die dahinterstehen, spricht keiner. Und theoretisch ist es mein Job, dass sich das ändert – und dass es gar nicht erst zu einer polizeilichen Räumung kommt, bei der es dem Zufall überlassen ist, wie sie ausgeht.

Sonntag, 20. Mai 2007

Sonntagsausflug nach San Bartolo
















La Borrachera

Ein Floh ist etwa 1,5 bis 4,5 Millimeter groß und kommt zwei Monate ohne Essen aus. Steht in Wikipedia. Es soll 2400 verschiedene Arten geben. Meiner hat sich mir noch nicht vorgestellt, aber eines weiß ich: Er ist gefräßig.

Er überfällt mich etwa jede dritte Nacht, und damit ich mir beim Schreiben nicht die mehr als fünf Dutzend Stiche aufkratze, habe ich mich jetzt in eine dicke Decke gewickelt. Das hält praktischerweise auch warm, denn Südamerika leidet unter einer ungewöhnlich heftigen Kältewelle. Damit sich´s mein Floh nicht noch gemütlicher macht, verzichte ich mal probehalber darauf, meinen neue kleine Gasheizung anzuzünden - und dann schauen wir mal, wer länger durchhält: der Floh oder ich.


Es lag aber nicht an den Flohstichen, dass ich im Mai zur „Valentina del Munich“ gekürt wurde. Tatsächlich habe ich in der Altstadtkneipe namens Munich im fortgeschrittenen Zustand einer nächtlichen Sauftour mit zwei trinkfesten Kolleginnen zu den Rhythmen einer schwarzen Kombo einen Frauentanzwettbewerb gewonnen. Zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass ich nicht freiwillig teilgenommen habe. Aber für den Preis hat sich´s dann doch gelohnt: ein Krug Bier.


Mittwoch, 16. Mai 2007

Die deutschen Kollegen



Manchmal treffen sich alle Deutschen, die mit Konflikten, Menschenrechten oder den Folgen der politischen Gewalt in Peru arbeiten, zum Austausch. In der Mitte Sabine, die Koordinatorin, die im Juli das Land verlässt, links außen ihr Nachfolger Uli. Rechts außen Teresa aus Barcelona. Die anderen drei Mädels, Annamaria, Kerstin und Cordula, arbeiten in Ayacucho in der Sierra und sind nur manchmal zu Besuch in Lima. Der junge Mann ist neu, und seinen Namen habe ich leider gerade vergessen.