Sonntag, 19. Dezember 2004

Schall und Rauch





Während Ihr also gerade Weihnachtsfeiern mit Glühwein und Plätzchen hinter Euch bringt und Euch zu Hause auf dem Sofa in Wolldecken einwickelt, schlappe ich abends im ärmellosen T-Shirt, Jeans und Sandalen an die Strandbar „Ricardo“, um dort einen Cuba Libre oder ein Bufalo zu heben, und schaue dabei durch die von tropischen Blumen umrankte offene Frontwand auf das Meer, die in der Bucht schaukelnden Boote und den unglaublichen Sternenhimmel über dem Pazifik. Alleine in einer Nacht habe ich kürzlich neun Sternschnuppen gezählt. Das wären dann ziemlich viele Wünsche frei, oder?

Also einer meiner Wünsche hat sich, wie man sehen kann, ohnehin schon erfüllt: Ich gehe wieder aus, seitdem ich mich in San Juan del Sur einquartiert habe – aber nicht zu oft, damit ich mit meiner Studie hier auch nochmal fertig werde. Die 50 Seiten über die Medien in Nicaragua sind fast zu Ende geschrieben, und am Montag muss ich sie abgeben. Sie haben mich ziemlich viel Schweiß gekostet, weshalb habe ich das urlaubsartige Ambiente in San Juan del Sur um so mehr genieße.

Der Ort ist für so einen Aufenthalt geradezu ideal: nicht so groß, dass man sich darin verlieren würde, aber groß genug, dass man immerhin zwischen einigen Tante-Emma-Läden, Internet-Cafes und Strandbars auswählen kann. Das Geschäft an der Ecke spendiert mir nachmittags hin und wieder einen Kakao aus selbst gerösteten und gemahlenen Bohnen, die Leute grüßen mich auf der Straße, und überall sagen sie – wenn ich`s gerade nicht passend oder gar nicht habe: „Dann zahlst Du halt morgen.“ Ein Mädel hier im Hostal fragte mich kürzlich ungläubig: „Sind die zu Dir auch alle so freundlich?“ Ja, die sind hier so freundlich.

Das gilt auch für die Mädchen, die im Hostal arbeiten. Administradora ist die 25-jährige Tanja, mit der ich mich angefreundet habe, während wir beide an der Straßenecke standen und auf die Purísima warteten. Die Heilige Jungfrau wurde Anfang Dezember zehn Tage lang jeden Abend auf einem Traktor-Anhänger durch den Ort gezogen. Jedes Mal gab es eine andere Dekoration zu bestaunen, und die kleinen hübschen Mädchen an der Seite der Figur trugen jeden Tag Engelsgewänder in anderen Farben. Angekündigt hatte sich die Prozession immer schon von Ferne durch den unglaublichen Lärm und Rauch eines ganzen Arsenals von Silvesterkrachern, gegen das die mitmarschierenden Trommel- und Trompeten-Spieler nur schwer ankamen.

Die Nicas haben eine absolute Vorliebe für Knaller. Schon Anfang November in Managua lernte ich diese lautstarke Art zu feiern kennen, als die Sandinisten bei den Kommunalwahlen fast alle Rathäuser im Land eroberten. Bei den ersten Krachern damals in Managua dachte ich noch, eine Straße weiter gäbe es eine Schießerei. Dabei war das noch gar nichts im Vergleich dazu, was hier in San Juan del Sur zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Luft gejagt wird. Ich kann mir inzwischen vorstellen, wie sich ein Guerillakrieg anhört. Vielleicht ist den Nicas diese Lust am Krach ja auch von ihren Bürgerkriegszeiten aus den 80ern geblieben, als die Sandinisten ihre Revolution gegen die von den Nordamerikanern finanzierten Contras verteidigten, bis sie 1990 ihre Macht durch demokratische Wahlen verloren und auf Landesebene seither auch nicht wieder zurückerobert haben.

An San Juan del Sur kann das übrigens nicht liegen, der Ort ist fest in Sandinistenhand. Von jedem dritten Haus weht die schwarz-rote Fahne, und auf dem Fest vergangene Woche zu Ehren eines im Kampf gefallenen marxistischen Märtyrers war ordentlich was los. Auch der neue Bürgermeister ist Sandinist, und das, obwohl er aus der vermögenden Familie Holmann stammt und verschwägert ist mit dem Clan der antisandinistischen Nachkriegs-Präsidentin und Chefin der größten nicaraguanischen Tageszeitung, Violeta Barrios de Chamorro. Die Holmanns haben einen guten Stand im Ort, vor einigen Jahren verschenkten sie aus ihrem reichlichen Grundbesitz Bauparzellen an arme Familien. So sind sozusagen in nicaraguanischer Form des Einheimischen-Baurechts gleich zwei neue Viertel im Dorf entstanden.

Das ansonsten eher überschaubar ist. Wenn Tanja abends um acht Schluss macht, begleite ich sie manchmal die zwei Häuserblocks bis zum Park an der Kirche, wo wir uns dann auf eine der Bänke setzen und zwischen herumtollenden Kindern, abendspazierenden Pärchen und sich langweilenden Jugendlichen unterhalten: über Männer (was sonst), die Bibel (na ja, nicht freiwillig) und das Leben an sich.Tanja hat zwölf Geschwister und sich ihr Studium mühsam durch Arbeiten finanziert: Ihre einzige Beziehung hat sie kürzlich beendet, weil ihr Freund mit ihr zusammenziehen wollte. Sie ist bildhübsch und Jungfrau, wohnt bei ihrer Mutter, glaubt fest an Gott, raucht nicht, trinkt nicht (nicht einmal Coca Cola ohne Rum), und wir verstehen uns trotzdem prächtig. Kürzlich waren wir zusammen aus, was für mich ein besonderes Erlebnis war.

Tanja holte mich mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Alejandra und ihrem Schwager im Hostal ab. Das Mädel hatte einen superkurzen Rock an und ein Oberteil, das gerade mal den Busen bedeckte. So zog sie denn im Licht der Straßenlaternen alle Blicke auf sich, als wir gemütlich hinternwackelnd, wie es hier üblich ist, zu viert bis zu der Bar schlenderten, die an diesem Abend die schlaglochübersäte Straße abgesperrt und zur Tanzfläche umfunktioniert und eine Videoleinwand und eine Bühne organisiert hatte. Dort standen wir dann erst einmal, gegenüber der Pulperia „Die drei Brüder“, in gebührendem Abstand vor dem Eingang - wie alle anderen, die nicht eintreten wollten, weil noch nichts los war. Der Discjockey animierte die Wartenden erst erfolgreich, als er den ersten Gästen über Mikrophon Freibier versprach.

Wer nun glaubt, die Latinos hätten sich sofort auf die Tanzfläche gestürzt, irrt. Da standen sie denn am Rand des kleinen Karrees, tranken Bier aus Pappbechern und taxierten die anderen Gäste – bis Tanja und ich die Vortänzer spielten, was allein schon deshalb peinlich genug ist, weil ich ja immer noch nicht tanzen kann. Aber zu meinem Glück schallte aus den 30 übereinandergestapelten Boxen erst einmal kein reiner Salsa, sondern Reggaeton, der einfacher zu tanzen ist und den ich schon aus Ecuador kenne. Musik dieser Richtung habe ich inzwischen sogar im Gepäck, weil erstens gewöhnt man sich an alles, und zweitens finde ich sie inzwischen richtig gut. Reggaeton ist ein latino-eigene Salsa-Mischung mit Techno-Beats (oder was auch immer) mit möglichst schmutzigen Texten, die es vor allem den Männern erlauben, ihre Bewegungen beim Tanzen mit möglichst eindeutigen Posen zu kombinieren. Weh dem, der da einen unangenehmen Tanzpartner hat.

Das konnte mir vergangenen Samstag nicht passieren, ich hatte Aufpasser dabei. Die 27-jährige kugelrunde Schwester, die ihre Fettschwarten in einer aufreizenden Art zur Musik bewegte, dass einem das Sehen verging, wimmelte mit Eiseskälte im Blick jeden ab, der ihr für Tanja oder mich nicht geeignet erschien. Wenn sie einen ihr nicht genehmen Aspiranten nicht rechtzeitig genug entdeckt hatte und ich meine Absage in ganz freundliche Worte zu packen versuchte oder gar zusagte, packte sie einfach resolut meinen Arm und zog mich weg. Und damit sich auch sonst keiner heimlich anschleichen konnte, begleitete der Schwager uns Mädels immer bis vor die Klotür, wo er brav wartete, bis wir auch wieder herauskamen. Und am Ende des Abends wurde ich natürlich erst an der Hostal-Tür verabschiedet. So funktioniert das also.

Angesichts solcher Überwachung und der Tatsache, dass man hier praktisch schon verheiratet ist, wenn man einmal mit einem Jungen ausgeht, finde ich Bismara noch unglaublicher. Die 25-Jährige arbeitet ebenfalls hier im Hostal und lebt, was ohnehin schon unerhört ist, in wilder Ehe mit ihrem „compañero“, wie sie ihn nennt. Was sie nicht davon abhält, sich seit zwei Wochen heimlich mit einem Verehrer zu treffen. Mag das in einer europäischen Großstadt schon schwierig sein, in einem mittelamerikanischen Dorf ist das ein Meisterstück. Um zu erklären, wie sie das managt, bräuchte ich wahrscheinlich ziemlich viel Platz. Bismara ist „bandida“, wie man hier sagt. Auch das gibt es.





Wenn ich also morgens um neun vom Schwimmen zurück bin und mich hier im schattigen Innenhof des Hostals mit meinem Computer, den Unterlagen und dem reichlich zerfledderten Wörterbuch am Tisch niedergelassen habe, Bismara mit Besen und Putzzeug um mich herum werkelt und Tanja sich für eine Pause neben mich in den Schaukelstuhl setzt, haben wir drei immer etwas zum Lachen und Tratschen. Und so wenig wie uns dabei der Stoff ausgeht, so wenig ist mir bisher die Lust an diesem Kontinent vergangen. Weshalb ich Weihnachten hier verbringe und Euch aus der Ferne schöne Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr wünsche. Wo ich diese Tage verbringen werde? Immer noch keine Ahnung. Die Auswahl ist einfach zu groß.

Donnerstag, 2. Dezember 2004

Santa Claus in Nicaragua





Der erste Advent ist schon um, und ich habe Weihnachten bisher nicht einmal erwähnt. Dabei waren schon in Quito, noch im Oktober, die ersten Jingle-Bells-Lieder und Weihnachts-dekorationen in den Geschäften aufgetaucht. Ich fühle mich allerdings immer noch nicht danach, wie auch, bei mindestens 30 Grad statt Eiseskälte, höchstens mal einem nächtlichen Regenschauer statt Schneetreiben. Und statt der ersten Sorte Weihnachtsplätzchen, die meine Mama an meinem Geburtstag um den ersten Advent herum immer schon gebacken hatte, stand in diesem Jahr eine rosarote Geburtstagstorte mit drei Blumen aus buntem Eischnee obendrauf auf dem Mittagstisch. Eine gelungene Überraschung. Gottseidank hatten sich Dayra und Douglas aus Taktgefühl die vielen Kerzen verkniffen, die inzwischen nötig gewesen wären – mit meiner Raucherlunge würde ich die ohnehin nicht mehr auf einmal schaffen. Und dankenswerterweise haben sie auch darauf verzichtet, nicaraguanische Geburtstagsbräuche an mir zu exekutieren: Mich morgens mit gekochten Eiern zu bewerfen und mein Gesicht hinterher mit buntem Eischaum von der Torte zu beschmieren.


Den Geburtstag werde ich außer wegen der riesigen Torte auch aus anderem Grund nicht so schnell vergessen. An diesem Tag stellten wir im Haus der Carcaches den Weihnachtsbaum auf. Während mein Vater in Deutschland für gewöhnlich nicht vor Mittag am 24. Dezember losgezogen ist, um für einen Fünfer aus den nicht verkauften Resten eine krüppelige dürre kleine Fichte zu fischen, die hinterher immer ganz pasabel aufgemotzt wurde, blinken in der Nachbarschaft in Bello Horizonte schon seit Wochen aus allen Fenstern blaue, rote, grüne und gelbe Lichter und stehen kunterbunt leuchtende überladene Dinger auf den wohnzimmer-artigen Terrassen. Solche Weihnachtsbäume kenne ich nur aus Werbesprospekten und nordamerikanischen Filmen.

„Unser“ Weihnachtsbaum, also der von Dayra und Douglas und Kathleen, hatte in meinem Zimmer im oberen Schrankfach gelegen, ohne dass ich es bemerkt hätte. Es ist schon seine dritte Saison. Das Drahtgestell mit grünen Kunststoffnadeln passt zum Übersommern in eine Plastiktüte und überragt mich ineinandergesteckt und ausgefaltet um einen ganzen Kopf. Wenn er wie die Bäume, die mein Vater immer anschleppte, irgendwo ein allzugroßes Loch zwischen den Zweigen zeigt, biegt man einfach ein bisschen herum. Das hat meine Mutter mit den echten Bäumen nie geschafft – das letzte Mal hat sie ihm deshalb einfach an einer Stelle einen Ast abgeschnitten und den an einer anderen Stelle angetackert. Aber wer meint, er müsste jetzt umsteigen, dem sei gesagt: Auch ein Kunststoffbaum nadelt mit der Zeit.


Dayra also holte Lichterkette nach Lichterkette aus dem Schrank, bärtige kugelrunde kleine Santa-Klaus-Figuren, Weihnachtskugeln in allen Farben und aus allen Materialien, rote Äpfel, goldfarbene Plastikperlenketten und den in Barcelona erworbenen Oster-Schmuck. Der passte gerade noch an die Zweige, obwohl zwei der acht Lichterketten ohnehin für die Krippe reserviert sind. Die steht noch nicht, aber ich habe schon gesehen, was reinkommt: unter anderem eine Giraffe, ein Zebra, ein Puma und Mickey Mouse.

Das Häuschen aus getrocknetem Schilfrohr für die Krippe sowie ein paar graue Bärte, die als Schmarotzer an Bäumen wachsen, hatten wir am Vortag bei einem Ausflug in den Norden des Landes gekauft. Dort bei Jinotega, der höchstgelegenen Stadt Nicaraguas, mutet es manchmal richtig alpenländisch an, obwohl es höchstens auf 1500 Meter raufgeht und außer Nadelbäumen und Erdbeeren auch Kaffee und Bananen wachsen. Dayra, Douglas und Kathleen zitterten ob der Eiseskälte, die sie dort empfanden. Die Temperatur fiel etwa auf den Durchschnitt eines verregneten deutschen Sommertags ab. Aber mir wurde versichert, dass dort manchmal auch die Sonne durch die Regenwolken hindurchscheint. Das Hotel, in dem wir zu Mittag aßen, heißt „Selva Negra“ (Schwarzwald). Es wird von Nachfahren deutscher Einwanderer betrieben und ist Teil einer absolut autark wirtschaftenden Öko-Farm. Die Besitzerin lässt sich von ihrem Mann und ihren 280 Arbeitern „Mausi“ nennen und könnte in ihrer Resolutheit auch gut auf einem schwäbischen Bauernhof wirtschaften. Tatsächlich aber spricht sie besser nordamerikanisch denn deutsch.


Ihr Mann, der immerhin einen deuschen Großvater aufzuweisen hat, tourte zu Anfang der sandinistischen Revolution 1979 zwei Wochen lang als Botschafter Nicaraguas durch Europa, wie er auf der Terasse des Restaurants stolz und auch etwas ausschweifend erzählte. Er hat unter anderem ein Buch über die Deutschen in Matagalpa geschrieben. Darin ist nachzulesen, wie sich der Brauch des Weihnachtsbaums in Nicaragua verbreitete. Zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts hatte sich eine der Töchter deutscher Einwanderer aus Jinatega nach Managua verheiratet. Weil ihr dort aber das Heimweh nach der Familien-Finka zusetzte, ließ ihr der Vater auf seinem Grund einen Baum schneiden, den ein Indianer dann zu Fuß in die doch einige Kilometer entfernte Hauptstadt trug. Heute allerdings glauben die meisten Nicaraguaner, der Brauch stamme wie Santa Claus und vieles andere aus den USA.


Wie eine alte Märchentante erzählte ich also die Geschichte vom richtigen Bischof Nikolaus, während Kathleen mit den goldfarbenen Plastikperlenketten zwischen den leeren Tüten herumtanzte und Disko-Queen spielte, Douglas sich mit einer Ausrede in sein Arbeitszimmer verkrochen hatte und ich Dayra beim Schmücken der Äste half. Sie sang mir nicaraguanische Weihnachtslieder vor und erzählte von ihrer Kindheit in Chontales im Zentrum Nicaraguas. Ich wiederum berichtete von Adventskranz und Weihnachtsplätzchen, schwärmte vom Glitzern der Schneekristalle an einem sonnigen eisigkalten Wintertag und wunderte mich insgeheim darüber, wie so ein einfaches Ding wie ein Weihnachtsbaum so viele Erinnerungen an die Kindheit heraufbefördert – auch wenn man zu dem Fest steht wie man will.

Aber mit solchen Geschichten will ich Euch jetzt nicht auch noch langweilen. Auch deshalb nicht, weil ich nach einer höllischen Termintour durch die Medien gestern wie angekündigt ans Meer gefahren bin, wo von Weihnachten noch nicht die Bohne zu spüren ist. Bei meiner Ankunft gestern Abend in San Juan del Sur nahe der Grenze zu Costa Rica in einem klapprigen knallgelben US-amerikanischen Schulbus, eingequetscht zwischen meinem Rucksack auf den Knien, dem Fenster und meinem Nachbarn, also nach drei Stunden Fahrt ohne die Möglichkeit, auch nur meinen kleinen Finger zu bewegen, begrüßten mich in der hereinbrechenden Dämmerung ein flammender Himmel und ein kurzer tropischer Regenschauer. Ich legte mein Gepäck in der nächstbesten Unterkunft ab und gönnte mir auf der Terasse eines Strandlokals zwei Bier und ein Krabben-Ceviche. Heute morgen bin ich schließlich in eine angenehme Hospedaje umgezogen, in deren schattigen Innenhof ich bis gerade eben gearbeitet habe.


Zum Aschluss des ersten Tages bin ich schließlich die paar Meter zum fast pisswarmen Pazifik marschiert und dort einmal durch die Bucht geschwommen. Anschließend trank ich mit Blick auf den Sonnenuntergang am Horizont einen dieser herrlichen eisgekühlten Kakaos. Kakao ist seit meiner Ankunft in Nicaragua mein neues Lieblingsgetränk und hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was uns in Deutschland unter diesem Namen serviert wird. Statt mit leicht bitterer Süße füllt sich der Mund mit einem zarten Hauch von Kardamon und Vanille. Ich glaube, dass das eine ziemlich angenehme Art ist, die Vorweihnachtszeit gut hinter sich zu bringen. Ich hoffe, das gelingt Euch auch.

Mittwoch, 1. Dezember 2004

Nicaragua in Bildern

Mercado Roberto Huembes, Managua






Pressestüberl im Parlament, Managua



Granada und Nicaraguasee





Mercado Oriental, Managua






Unterwegs







León



Unterwegs




Dienstag, 23. November 2004

Gute Ratschläge





So viele gute Ratschläge wie in den ersten Tagen in Managua habe ich mir noch an keinem Ort anhören müssen. Die Nicas, wie sie sich nennen, glauben, dass sie im gefährlichsten Land der Welt leben, vor allem wenn sie noch nie im Ausland waren, und dass ich zum ersten Mal in meinem Leben mein Elternhaus verlassen habe. Gleich bei meinem ersten Treffen mit dem freien Journalisten und Uni-Dozenten Fernando Centeno erhielt ich viele gute Empfehlungen, was mein Benehmen auf der Straße, den Umgang mit Taxifahrern und den Inhalt meiner Handtasche angeht...

Zum Abschluss seines Vortrags sagte er etwas mitleidig: „Offene Schuhe, eine leichte Hose und ein T-Shirt, das genügt.“ Währenddessen wickelte ich mich mit meiner Nebenhöhlenentzündung noch ein bisschen mehr in mein dickes Schultertuch und nickte nur ergeben. Seine Klimaanlage verbreitete Eiseskälte in seinem kleinen Büro und ihr Lärm bereitete mir Mühe, ihn mit meinen noch vom Flug verstopften Ohren zu verstehen. Ich merkte schon, dass ihm mein Aufzug gar nicht geheuer war und er mich eher in seinen Uni-Kurs stecken wollte als sich von mir ausquetschen zu lassen.

Als ich ihn ein paar Tage später bei einer Veranstaltung der Stiftung in einem der Luxus-Hotels in der Stadt wieder traf, hatte ich mich präpariert: Ich trug spitze Stöckelschuhe statt meiner bequemen Camper-Latschen und einen leichten Leinenanzug statt Jeans, die Sachen eben, die in Quito nie zum Einsatz gekommen waren – mangels Gelegenheit und wegen der Kälte. Das Resultat war prompt zu hören. „Heute kommst Du mir schon eher vor wie eine Journalistin“, sagte Centeno zur Begrüßung. Als wäre ich plötzlich jemand anders.

Bei unserem dritten Treffen schließlich fragte mich der etwa 50-Jährige, der auch ehrenamtlich für die Stiftung arbeitet, vollkommen ohne Zusammenhang: „In wie vielen Ländern warst Du schon?“ Die Antwort hat mir dann endgültig den Respekt eingebracht, den ich, wenn schon, dann eigentlich eher wegen anderer Dinge verdiene. Den Schluss, den ich aus diesen Episoden gezogen habe: Seither stöckle ich also in die Chefetagen und vergesse bei meiner Vorstellung neben den vielen anderen Dingen nie zu erwähnen, dass ich schon ein paar Monate in Lateinamerika unterwegs bin, was ich in Quito gemacht habe und was ich in Guatemala vorhabe. Damit lässt sich wenigstens ein bisschen der erste Eindruck revidieren.


Mehr noch aber kaempfe ich in diesem Land mit meiner politischen Positionierung. Der alte Haudegen Carlos Gadea Mantilla, der mit seinem Bruder den Radiosender Corporación betreibt, fragte mich mitten im Gespräch vollkommen unvermittelt und leicht drohend, ganz in der Manier eines bayerischen CSU-Bauern: „Bist Du Demokrat?“ Ich nickte schnell mit dem Kopf, damit er mich nicht aus seinem Müllhaufen von Büro hinausschmiss, wissend, dass er unter dem Wort ganz etwas anderes versteht als ich. Sein Radiosender ist berüchtigt für seine antisandinistischen Tiraden. Tags darauf bei La Nueva Radio Ya durfte ich mir dafür von Direktor Denis Shwartz einen propagandistisch-erzieherischen Vortrag über das Weltbild der Sandinisten anhören und hatte dabei immer wieder Mühe, ihn auf die Spur meiner Fragen zu leiten.


Am Samstag schließlich wurde mir klar, dass es ziemlich schwierig ist, in einem politisch so polarisierten Land eine zumindest nach außen hin neutrale Position zu bewahren. Ich nahm für die Arbeit an der Studie an einem Treffen der konservativ-liberalen Allianz APRE teil, die dort eine Woche nach den Kommunalwahlen ihre Wunden leckte. Angesichts der Dummheiten, die da zu hören waren, hatte ich Mühe, meinen Mund zu halten. .


Aber das Land ist nicht nur politisch gespalten, sondern auch sozial, viel mehr als etwa Ecuador, was zeigt, dass es wahrscheinlich wirklich das zweitärmste Land Lateinamerikas ist. In Managua stehst Du unvermittelt in einem absolut gefährlichen Viertel aus Wellblechhütten, wo sich ich im Staub der ungepflasterten Straße ein Betrunkener wälzt und sich zwielichte Gestalten herumtreiben. Oder umgekehrt in einem Viertel der gehobenen Mittelschicht mit Wachmann, Eisengittern und zwei Autos vor jeder Tür. So wie in Bello Horizonte, wo ich wohne.


Während die Wellblechhütten-Nicaraguaner ein Entwicklungsland-Leben führen, ist das der anderen absolut nordamerikanisiert. Geld abgeheben? Am Drive-In-Schalter der Bank. Bier kaufen in der Pulperia an der Ecke? Nicht ohne Auto. Essengehen? In einer der Fastfood-Ketten. Shoppen? In der hypersterilen Mall. Neue Schuhe? Aber die Marke aus den USA. Die zwei Welten treffen sich höchstens an der roten Ampel, wo die einen versuchen, die Windschutzscheiben der anderen zu putzen.

Das jedenfalls ist Managua. Auf dem Land wiederum scheint alles viel ruhiger, ungefährlicher, gleichgewichtiger. In Granada kann man ungestört durch die Straßen schlendern, die Kolonialhäuser bewundern und an einem Kiosk auf dem Hauptplatz im Schatten der Bäume einen herrlichen eisgekühlten Naturkakao trinken. In San Juan del Sur lässt sich wunderbar ein Tag am Strand vertrödeln mit Schwimmen, Ceviche, Tischfußball und Bier. Und in Tipitapa nahe Managua schließlich lockt ein Thermalbad inklusive Natur-Sauna mit Schwefelwasser aus dem nächsten Vulkan.


Eine leicht übergewichtige Dame, die dort seit Jahren jeden Samstagvormittag verbringt, erklärt dann im Holzverbau über dem Becken mit dem heißen Wasser gerne, wie man sich wie sie bis ins hohe Alter fit hält, gibt Tipps für die Ernährung und macht dann im Schwefeldampf auf den morschen Holzplanken gleich die empfohlenen Leibesübungen vor. Das mit den Übungen und den Ernährungstipps scheint durchaus angebracht. Die Nicas sind ziemlich übergewichtig, um nicht ehrlicherweise zu sagen fett. Aber in der Sauna sieht man das nicht so genau. Abgesehen davon, dass man sich dort natürlich nicht nackt aufhält, ist es ziemlich duster.

Es mag schwer vorstellbar sein, aber Sauna ist auch in einem tropischen Land ein Vergnügen. Deshalb werde ich meine Gastgeber Douglas und Dayra morgen wieder dorthin begleiten – und mir wünschen, dass das kalte Wasser aus der Dusche wenigsten ordentlich kalt wäre. Neid? Tröstet Euch: Immer schwitzen ist auch nicht schön.


Samstag, 13. November 2004

La Zora




Vor einer Woche bin ich hier in Nicaragua gelandet, in einer kuriosen Mischung aus USA und Afrika, und ich versuche mich immer noch an den abrupten Wandel meines Lebens zu gewöhnen. Nach den vielen studentischen Nächten in Quito und einem tränen- und alkoholreichen und tagelang gefeierten Abschied von vielen guten Freunden bin ich hier ohne mein Zutun in ein Familiennest gefallen. Und während die Zeitungen hier von einer Kältewelle sprechen, sitze ich mit dem Laptop auf den Knien bei Dunkelheit und annähernd 30 Grad im Licht einer Straßenlaterne auf dem Terassenboden eines hermetisch abgesperrten Einfamilienhauses in einem Mittelklasse-Wohnviertel von Managua. Der private Straßen-Wachmann schnorrt mich gerade durch die Gitter um eine Zigarette an und kommuniziert gleichzeitig mit seinem Kollegen durch die Trillerpfeife, die hier die ganze Nacht durch die Gegend gellt, und von irgendwoher bellen mindestens sieben Hunde. Aber ich will mich dieses Mal ausnahmsweise ein bisschen an die chronologische Reihenfolge halten.


Mit 15 Kilogramm Übergepäck bin ich in dieser Stadt angekommen, dazu mit einer neuen Nebenhöhlenentzündung und verstopften Ohren. Die Herberge „einen Block nördlich und einen Block östlich vom Ticabus-Terminal“, wie die offizielle Adresse lautet, war als solche eigentlich nicht zu erkennen und hat mich dann auch nicht lange überzeugt - obwohl ich das einzige Zimmer mit eigenem Bad und einem kleinen Beistelltisch kriegte. Der Raum roch stark nach Ölfarbe und hatte kein Fenster, nach wenigen Minuten legte sich mein T-Shirt in der tropischen feuchten Hitze, die in dem Zimmer stand, klitschnass an den Körper, und vom Vorraum, der der Herbergsfamilie als Küche, Baby-Schlafzimmer, Kramerladen, Restaurant und Waschzimmer gleichzeitig diente, drang außerdem Musik, Fernsehlärm, Kinderweinen und Muttergeschrei herein. Ich verzichtete darauf, dem noch das höllische Surren des Ventilators hinzuzufügen und machte mich erst einmal auf den Weg. Einige Straßenzüge weiter in einem Einkaufszentrum, an dessen Eingang darauf hingewiesen wurde, dass der Eintritt mit Waffen verboten ist, besorgte ich mir einheimische Währung, Cordobas. Und schon auf dem Heimweg fand ich ganz zufällig ein kuscheliges kleines möbliertes Apartement, in das ich anderntags auch gleich einziehen wollte.

Am Morgen machte ich mich allerdings erst einmal auf den Weg in das Büro der deutschen Stiftung, offizielle Adresse: Südliche Straße, Kilometer 14, 300 Meter linker Hand. Soviel konnte sogar ich erkennen: Das Büro befindet sich ab vom Schuss. Ich fand aber ohne Probleme Bus 118 und wechselte bei Kilometer sieben auf der südlichen Straße wie von der Herbergswirtin angwiesen in einen Minibus. Da stieg schon wieder dieses Glücksgefühl auf, das immer kommt, wenn ich in einem alten abgewetzten, durchgesessenen Sitz jeden Knochen meines Hinterns einzeln spüre, mir durch alle Fenster der Fahrtwind und die absurdesten Gerüche ins Gesicht wehen, die fliegenden Händler im Zwischengang abwechselnd Wasser aus Plastiktüten, Bananen-Chips, Batterien und Haargummis anbieten und ich überhaupt nicht weiß, wohin ich fahre. Was ich sah: üppige Vegetation, Wellblechhütten, Abwasser-Rinnsale, Mitsubishi-Vertretung, Mall im nordamerikanischen Stil, Hühnchen-Schnellimbiss, einen Vulkan und nach einem nächtlichen Wolkenbruch absolut klare und reine Luft, die der Sonne eine besondere Brillanz verlieh.

Dass mich der Busfahrer nicht an Kilometer 14, sondern schon bei 13.7 rausgeschmissen hatte, merkte ich erst, als nach 600 Metern in der Straßeneinfahrt immer noch kein Haus mit dem Schild der Stiftung aufgetaucht war. Ich latschte wieder zurück, vorbei an herrschaftlichen Heimen in großen Grundstücken, in denen gerade die Gärtner zuwege waren, die sich alle nicht auskannten im Viertel ihrer Herrschaft, und drei lange Straßeneinfahrten weiter wurde ich schließlich fündig. Inzwischen war ich total verschwitzt, ordentlich verspätet, hatte einen Sonnenbrand und die erste Bekanntschaft mit dem aufgeschlossenem Wesen nicaraguanischer Männer gemacht – um den Weg abzukürzen, war ich schlussendlich über eine Baustelle gelatscht, an der zwei Dutzend Maurer, Gärtner und Schreiner handwerkten. Die Dame von der Stiftung jedenfalls war entsetzt. Ob mehr über meinen Zustand oder darüber, dass ich mit dem Bus gekommen war, konnte ich nicht herausfinden.


Keine halbe Stunde später jedenfalls versicherte sie Douglas, Wastis Studienkollegen aus Barcelona, jefe de informacion bei der größten nicaraguanischen Tageszeitung La Prensa und ehemaliger Stipendiat der Stiftung, der ihr am Telefon meine Unterbringung angeboten hatte, dass ich mich darüber sicher wahnsinnig freuen würde, und nach meiner Rückfahrt und einem ersten Interview mit einem freien Autor und Uni-Professor landete ich mit Sack und Pack im Viertel Bello Horizonte bei dem 44-Jährigen Journalisten, seiner 30-jährigen Frau Dayra und der neunjährigen Tochter Kathleen sowie der Hausangestellten, die mich alle – obwohl sie mich gar nicht kannten – aufnahmen, als wären wir alte Freunde.


Schon am zweiten Tag packten sie mich ins Auto und wir fuhren ins 40 Kilometer entfernte Granada, besuchten dort die Oma und machten anschließend eine Rundfahrt durch die koloniale Altstadt. Anderntags lernte ich den großen Obst- und Gemüsemarkt kennen sowie die Lagune Apoyo, von deren Rand man einen wunderbaren Blick auf Granada, den Lago Nicaragua sowie den Vulkan Masaya hat. Und lernte dabei einiges über das Leben einer Mittelklassefamilie in Nicaragua, die sich von einer solchen in Ecuador wahrscheinlich höchstens dadurch unterscheidet, dass weniger Indianer-Blut in ihren Adern fließt. Worin sie sich nicht unterscheidet: in der fast schon als Manie zu bezeichenden Angst vor Kriminalität, Diebstahl, Raub und Mord.


Allerdings muss ich zugeben, dass man hier doch etwas handfest vorgeht. Diese Woche haben sie in der Heimatstadt Dayras, in den Bergen von Chantale, eine junge Journalistin erschossen, eine entfernte Verwandte meiner Gastgeberin. Das Mädel hatte etwas geschrieben, was dem Vize-Bürgermeister nicht passte, und da zückte er eben seine Waffe. Er ist nicht der erste, der ein Problem mit der Presse in diesem Jahr auf diese Art gelöst hat. Der Grund seiner Unzufriedenheit lag übrigens in der Berichterstattung über die Kommunalwahlen am vergangenen Sonntag, bei denen die Sandinisten praktisch alle Rathäuser des Landes zurückerobert hatten. Während die Linken immer noch feiern, befinden sich die Liberalen im Schockzustand und schreien Betrug und Fälschung.

Der abrupte Wechsel meines Lebens hat allerdings nicht nur damit zu tun, dass ich nun bei einer Familie in einem Viertel ab vom Schuss wohne, sondern natürlich auch mit der Stadt selbst. Managua fehlt jede Form von Urbanität, für Fußgänger ist die Stadt vollkommen ungeeignet, ein Zentrum im herkömmlichen Sinn scheint es überhaupt nicht zu geben, der öffentliche Busverkehr ist viel schlechter als in Quito und tatsächlich falle ich im Gegensatz zu dort hier fast so sehr auf wie in den Slums von Nairobi. Ohne Taxi kann ich mich praktisch nicht fortbewegen. Sobald ich nur einen Meter zu Fuß mache, werde ich als „mami“ oder „mamita“ (männlicherseits), in weniger freundlichen Fällen als „zora“ (weiblicherseits) angequatscht.

Und so habe ich es also nach einigen Versuchen aufgegeben, meine Termine mit Bus oder zu Fuß zu machen und kutschiere seit Dienstag, nach einigen Tagen Internet-Recherche hier in einem Ciber-Café um die Ecke, im Taxi von Zeitung zu Wochenblatt zu Radio zu Fernsehstation, um Chefs vom Dienst, Eigentümer und Direktoren zu interviewen. Mein nach einigen Tagen Suche erworbener Stadtplan ist mir dabei allerdings von wenig Nutzen, Metermaß und Kompass wären da schon hilfreicher. Die absurdesten Adressenangaben in dieser Stadt fast ohne Straßennamen beginnen mit dem Satz: „da wo einmal das Kino Dorado/die Fleischerei Gutiérrez/das Hotel ich weiß nicht mehr wie es heißt stand, davon drei Straßenzüge zum See und anderthalb nach Norden“. Selbstverständlich finden sich diese Fixpunkte aus der Zeit vor dem Erdbeben im Jahr 1972 in meinem Stadtplan nicht wieder.

Während ich mich also gerade an viele Neuerungen gewöhne, gibt es aber immerhin eine Konstante. Auch hier isst man mehrmals täglich Reis. Der hier täglich von roten Bohnen begleitet wird. Zwar lässt mich die hervorragende Köchin fast vergessen, dass ich Reis gar nicht mag. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich im Supermarkt wieder nicht an den Oliven, dem Weißbrot und den Würstel vorbeigekommen bin, die aussahen wie spanische Chorrizos. Und an denen werde ich mich jetzt noch schnell vergreifen. Ich habe zwar allein in dieser Woche hier schon mindestens drei Kilo zugenommen, aber das kann ja nicht schaden. Man weiß ja nie, was noch alles kommt.

Donnerstag, 28. Oktober 2004

No Man´s Land







Die Wirklichkeit ist immer anders, als man sie sich vorgestellt hat. Das hat nicht nur die Reise nach Peru gezeigt, das habe ich auch auf meiner jüngsten Reise wieder festgestellt. Lago Agrio oder Nueva Loja, wie die Stadt im Norden des Landes auch heißt, gilt als gefährlichster Ort in ganz Ecuador. Bis vor 20 Jahren soll es im Umfeld nur dichten unberührten Urwald gegeben haben. Nach Entdeckung der ersten Erdölvorkommen setzte dann ein Boom ein, in dessen Verlauf sich dort Arbeiter des Texaco-Konzerns, Straßenbautrupps, Jäger, Glücksritter, Holzfäller, Soldaten, Prostiutierte und entwurzelte Indígenas ansiedelten. Die Nähe zur kolumbianischen Grenze zieht heute außerdem Waffen- und Drogenschmuggler, Flüchtlinge und versprengte Guerilla-Kämpfer an. „Von abendlichen Spaziergängen abseits der Hauptstraße wird dringend abgeraten“, heißt es in meinem Führer. Tatsächlich aber stieg ich nach einer Nacht im Bus in einem Ort aus, der außer einer schwülen Hitze einfach nur pralles Leben zu bieten scheint und deshalb trotz seiner staubigen, ungeteerten Straßen, Holzbaracken, unfertigen Betonhäuser und verwegenen Gestalten außerordentlich sympatisch wirkte.


Erstes Ziel nach einer Dusche in einem billigen Hotel und einem Frühstück war das Büro der Föderation der Bauern-Organisationen der Region Sucúmbios. Präsident Daniel Alarcon, ein Schwarzer aus der Küstenstadt Esmeraldas, hatte ich vorher schon in Quito getroffen, und mit seiner Hilfe machten Tancredi, Linda und ich noch am selben Tag eine achtstündige Rundfahrt durch den Grenzstreifen, um uns mit eigenen Augen die Folgen des Plan Colombia anzuschauen, für den die USA jährlich 860 Millionen Dollar ausgeben. Offiziell unterstützen sie damit Kolumbien im Anti-Drogen-Kampf, tatsächlicher Hintergrund aber ist der Kampf gegen die FARC, die linke Guerilla Kolumbiens. Im Rahmen dieses Planes besprühen die Nordamerikaner aus der Luft Coca-Felder mit Glifosat. Dieser Giftstoff macht aber natürlich nicht an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze Halt. Die Folgen: Frühgeburten, Missbildungen, Erkrankungen von Haut und Nervensystem, tote Viecher, kontaminiertes Wasser und eine Erde, auf der nichts mehr wächst, weder Banane noch Maniok noch Kaffee. Männer zeigen die Geschwüre auf ihrem Hinterkopf, Frauen weinen um tote Kinder, und wer kann, verlässt die Gegend. Wie es auf der kolumbianischen Seite aussieht, kann ich mir jetzt lebhaft vorstellen.


Zu Beginn zogen Sarah, eine der Angstellten der Bauern-Föderation, und ich erst einmal los, um einen Pick-up zu mieten. Der Taxifahrer schaute uns zweifelnd an und sagte lakonisch: „Na, dann hoffe ich, dass sie mich nicht entführen.“ Als ihm Daniel Alarcon dann im Büro die genaue Route erklärte, brauchte der Mann noch einmal einige Minuten, bis er sich endlich dazu durchrang, mit uns 50 Dollar zu verdienen. So ging es über Schotterstraßen, Wellblechpisten und Forstwege von Dorf zu Dorf. Letzte Station der Rundfahrt war der Ort San Francisco II, 500 Meter von der Grenze entfernt. An einer Militärsperre einige Kilometer vorher kontrollierte ein Soldat unsere Ausweise, fragte nach dem Ziel und sagte zum Abschied nur: „Vorsicht!“ Das war das Stichwort, um den Taxifahrer noch nervöser zu machen. „Das hier ist die Coca-Straße“, sagte er. Einer der Grenzwege für die Drogenschmuggler. Er schaute sich ständig um, der Weg aus faustgroßen Steinen und einer Aneinanderreihung von Schlaglöchern erlaubte nur noch Schrittgeschwindigkeit. Nach einigen Kurven im dichten Wald tauchte eine Frau aus einem Pfad auf, hob warnend den Finger. Kurz darauf brannten rechts und links kleine Feuer am Wegesrand – und da waren plötzlich in der nächsten Kurve zwei Männer zu erkennen. Der Taxifahrer erlitt eine Schweißattacke und überlegte sichtbar, ob er nicht doch besser den Rückwärtsgang einlegen sollte. Allerdings ganz ohne Grund. Wir passierten die beiden Bauern ohne Zwischenfälle. In der Dämmerung und nach zwei Dutzend Interviews kehrten wir wieder heil nach Lago Agrio zurück, wo wir uns ein üppiges Abendessen gönnten, hinterher durch die Hauptstraße schlenderten und dabei Volksküchen, Alkoholausschanke, Prostiuierte und Soldatenposten passierten und uns mit reichlich Schokolade für den Nachtisch eindeckten.


Anderntags tuckerten wir im Bus drei Stunden in Richtung Süden nach Coca, das, als Missionsvorposten gegründet, auch Francisco de Orellana heißt. „Lust auf schmutziges Wildwest-Ambiente, schlammige Avenidas, platt gefahrene Müllhaufen und allerorts tropisch brütende Fäulnis? Verrückt nach aufgewirbelten Staubwolken und einem mit Rohölresten bespritzen T-Shirt, das unter einer hermetischen Hitzeglocke wie ein Neopren-Anzug am Oberkörper festklebt? Ganz wild auf grimmig dreinblickende Militärs mit Spiegelglassonnenbrillen in starren Gesichtern, schuftige Trunkenbolde, dickbäuchige Petroleros, jähzornige Stechmücken und leidgeprüfte, aus morschen Bordellbaracken entsprungene Straßenkinder? In diesem Fall ist der am unteren Río Napo gelegene Flusshafen mit dem heiklen Namen genau das Richtige.“ So schreibt mein Führer. Aber wiederum: Was ich vorfand, war ein sympathisches kleines Provinznest.


In Coca hatte ich einen Termin im Büro von Luis Yanza von der Front zur Verteidigung des Amazonas-Gebiets vereinbart. Die Organisation vertritt die Interessen derer, die unter den Folgen der Erdölförderung durch Texaco leiden und gegen den Konzern klagen. Yanza organisierte mir nach einem Gespräch einen Taxifahrer für den anderen Tag. Anschließend tranken Tancredi, Linda und ich noch ein gemeinsames Bier, bevor die zwei bereits wieder in den Bus nach Quito stiegen und mich alleine zurückließen. Nach einem Abendessen schlenderte ich in mein viertklassiges Hostal am Flussufer, trank auf der Terrasse mit Blick auf den Río Napo mein auf dem Heimweg gekauftes Bier und legte mich schließlich schlafen – mit dem Geräusch eines summenden Ventilators im Ohr und dem Blick auf eine vertrocknete Kakerlake auf dem Fliesenboden. Anderntags beim Frühstück in der Stadt stürmte ein Trupp Erdölarbeiter das Lokal und ich sah mich plötzlich in Begleitung dreier Indígenas am Tisch, die Eier im Glas, Semmeln mit Marmelade und Käse aßen, eine Tasse Milch schlürften und sich hinterher noch Reis und Banane mit Ragout schmecken ließen. Frühstück „completo“, wie es auf der Speisekarte heißt. In Lago Agrio nannte man es Frühstück „petrolero“.


Jorge, der Taxifahrer, entpuppte sich als gemütlicher, kugelrunder, grauenhaft nuschelnder, aber kundiger Führer durch das ehemalige Fördergebiet von Texaco im Amazonasgebiet. Auf der siebenstündigen Rundfahrt sah ich alles an Verseuchung, was zu sehen ist: Bäche, die nichts anderes sind als 40 Zentimeter Rohöl, Erdölbrunnen, offene Öl-Becken, Anlagen zum Abfackeln der Gase... Ich sprach mit Bauern, deren Rinder verrecken, denen nur kontaminiertes Trinkwasser bleibt und die unter diversen Krankheiten, dem Lärm der Anlagen und allerhand anderem leiden. Wer kann, verlässt auch diese Gegend.


Das wollte ich eigentlich auch tun nach meiner Rundfahrt, aber Jorge lud mich zu sich nach Hause ein, wo uns seine Señora ein ordentliches Essen auftischte – na ja, er hatte auch einen ordentlichen Preis für die Rundfahrt verlangt. Nachdem der Taxifahrer wieder zum Arbeiten verschwunden war, wechselten seine Frau und ich auf die Hängematten der Betonterasse im ersten Stock des Hauses und plauderten drei Stunden angeregt. Sie erzählte unter anderem von dem Indianerstamm, der heute noch nackt im Urwald rumrennt und von dem niemand etwas weiß, weil er jeden umbringt, der sich auch nur ein bisschen nähert. Die zwei Missionare, die 1987 zur Kontaktaufnahme in den Dschungel aufgebrochen waren und dort ermordert wurden, stammten aus Coca. Mit Berichten über die Lanzenstiche in den Leichen, das ihnen gewidmeten Museum, Rotfuß- und Gelbfußindianer und die Bürgermeisterin, die am vergangenen Sonntag zur Provinzpräfektin gewählt wurde, verging die Zeit bis zur Abfahrt meines Busses wie im Flug.

Im Bus schließlich kam ich ausgerechnet neben dem Dorfsekretär eines Ortes zu sitzen, der in einem Biosphärenreservat liegt und gegen die dort im Januar beginnende Erölförderung durch ein chinesisches Unternehmen kämpft. Ein Steinchen mehr in meiner Recherche. Und als der Dorfsekretär ausstieg und sich ein junger Soldat neben mir niederließ, war ich schon so müde, dass ich gar nicht mehr reagierte, als sich dieser im Laufe der elfstündigen Fahrt mehr und mehr an mich hinkuschelte. Ich schlief tief und fest. Trotzdem kam ich im Morgengrauen reichlich erschöpft in Quito an.

Es war voraussichtlich erst einmal meine letzte Reise in diesem Land. Am Mittwochmorgen fliege ich via Panaman nach Nicaragua, um für eine deutsche Stiftung eine kleine Studie in spanischer Sprache über die dortige Presselandschaft anzufertigen. Abgabetermin 20. Dezember. Zum letzten Mal also ganz viele herzliche Grüße aus Ecuador.