Freitag, 31. August 2007

Bei Bolívar




Diese Woche hatte ich genug von Beben und anderen Unannehmlichkeiten (also dass jetzt keiner glaubt, die Nachbeben seien schon vorbei), und deshalb bin ich mit Hildegard ins Hotel Bolívar gegangen, um einen Pisco zu heben.
Das Haus in der Altstadt war mal eines der besten am Platze. Heute wird es von den Bediensteten gefuehrt, die die Wiedereroeffnung damit durchsetzten, dass sie sich an die Eingangstuere ketteten.
Alter Charme, ein bisschen heruntergekommen, benannt nach dem Unabhaengigkeitskaempfer und Nationalhelden Simon Bolívar. Wenn ich mal Zeit habe, sicher eine Geschichte wert. Aber jetzt fahre ich erstmal eine Woche in Urlaub - und zwar nicht als Aufbauhelferin ins Katastrophengebiet in den Sueden, wie ich es erst geplant hatte, sondern zum Baden und Wandern in den Norden . . .

Mittwoch, 29. August 2007

Nach dem Beben (III)

Pisco ist nicht nur der Name der Stadt in Peru, die beim Erdbeben vor zehn Tagen zu drei Vierteln zerstört wurde. Der Name Pisco steht auch für das Nationalgetränk des Landes. Einen „Pisco 7,9” wollte Perus Produktionsminister Rafael Rey nun herausbringen – in Anspielung auf die Intensität des Bebens. Das wurde selbst von den eher schicksalsergebenen Peruanern als grober Zynismus empfunden und hat landesweit Empörung ausgelöst. Angesichts der Proteste nahm der ultrarechte Politiker die Ankündigung anderntags kleinlaut zurück.

Staatspräsident Alan García hat die Pläne seines Untergebenen erst gar nicht kommentiert. Dafür redete er bei seinen Visiten im Katastrophengebiet umso mehr. „Hier wird keiner verhungern oder verdursten”, erklärte er zwischen den Trümmern. Doch auch zwei Wochen nach dem Unglück betteln noch immer verzweifelte Menschen an der Schnellstraße Panamericana um Essen und Wasser. In vielen zerstörten Anden-Dörfern hat sich kein Vertreter einer staatlichen Institution blicken lassen.

Auch ansonsten glänzte der Präsident in diesen Tagen nicht immer mit Sachkenntnis: „Die Nichtregierungsorganisationen sollen sich gefälligst an den Rettungs- und Aufräumarbeiten beteiligen”, forderte er. Ein spanisches Rettungsteam schnauzte er an: „Wer Angst hat, soll gehen!” Zu diesem Zeitpunkt waren längst alle maßgeblichen Organisationen in der betroffenen Region im Einsatz – nur die staatliche Katastrophenhilfe funktionierte nicht. Von dort kamen nur „pure Pose und Improvisation”, wie ein Peruaner in einem Leserbrief an die Zeitschrift Carretas schrieb.

Die Zivilschutzbehörde war in der Regierungszeit von Garcías Vorvorgänger Alberto Fujimori im Zeichen neoliberaler Reformen „verschlankt” worden – und zwar wie alle anderen peruanischen Institutionen bis zur Handlungsunfähigkeit. Das Budget war Jahr für Jahr reduziert worden, zum Zeitpunkt des Bebens bestand die Notfallausrüstung der Behörde aus zweihundert Zelten und einer Kiste Konserven. Zu wenig für 30 000 Familien, die ihr Haus verloren, nichts zu essen, keinen Strom und kein Wasser haben. Nur die überwältigende Hilfsbereitschaft der Peruaner gegenüber ihren Landsleuten glich die mangelnde staatliche Versorgung aus. Dann aber fehlte es an Koordination bei der Verteilung.

Die Abstimmung mit der Regierung funktionierte von Anfang an nicht. Kurz nach dem Beben brach das Telefonnetz zusammen, inklusive der „roten Leitung” der Armee, über die sich die Kommandeure in Krisenfällen eigentlich verständigen sollen. Bis heute können Staatsbedienstete ihre Satellitentelefone nicht benutzen, weil die Regierung die Rechnungen nicht bezahlt hat. Lokale Autoritäten sind oft handlungsunfähig. Der Bürgermeister der Stadt Pisco, Juan Mendoza, verlor selbst Angehörige bei dem Beben, er ist traumatisiert und beginnt in Besprechungen zu zittern.

Was passiert wäre, hätte das Beben in der Neun-Millionen-Metropole Lima die gleich Intensität erreicht wie in der 300 Kilometer entfernten Küstenregion, hat Julio Escobar mit Hilfe eines Computerprogramms simuliert. Der Spezialist für geographische Informationssysteme rechnet bei einem vergleichbaren Erdbeben in Lima mit hunderttausend Toten und einer Million Obdachloser. Escobar ist 80 Jahre alt, er hat 1970 miterlebt, wie seine Heimatstadt in den Anden durch ein Erdbeben zerstört wurde. Bei der Naturkatastrophe starben mehr als 50 000 Menschen. Damals wurde der Zivilschutz geschaffen, zu dessen Mitbegründern Escobar gehört. Nun hofft er darauf, dass dem Beben ein politisches Beben folgt.

Doch Präsident García bleibt bei den üblichen Mitteln. Der Wiederaufbau soll ausgelagert werden in eine neugeschaffene, nicht-staatliche Institution, die der ultrakonservative Unternehmer Julio Favre führen wird – nur dem Präsidenten verpflichtet und ohne die Auflagen, die für den öffentlichen Dienst gelten. Kritik am Notfallmanagement wies García bisher empört zurück. Er fürchtet auch wegen Skandalen um seine Popularität. Garcías Zustimmungswerte sanken in einem Jahr von mehr als 60 auf 30 Prozent. Abgeordnete machen von sich reden, weil sie ihre Putzfrauen zum Schein als politische Berater anstellten. Außerdem eskalieren die Grenzstreitigkeiten mit Nachbar Chile. Die Wachstumsraten vor dem Beben waren zwar hoch, doch viele Menschen haben nichts davon. Im Juli kam es zu Protesten, Streiks und Straßenblockaden. Eine neue Welle des Aufruhrs wurde nur durch das Erdbeben abgewürgt.

Der Schriftsteller Beto Ortiz schilderte in der Zeitung Perú 21, wie die Misere des Landes sich in den Gesichtern der ausgemergelten und halbverhungerten Gestalten spiegelt, die im Katastrophengebiet um Essen anstehen. „Dieses Erdbeben war in Wirklichkeit der brutale Ausbruch eines Vulkans des Elends, das dieses Land an allen Ecken überzieht.”

Dienstag, 28. August 2007

Das Auge der Erinnerung





Vor vier Jahren, am 28. August 2003, hat in Peru die Wahrheits- und Versoehnungskommission nach 18 Monaten Arbeit einen neunbaendigen Bericht abgegeben. Das Ergebnis der Untersuchung: In den Zeiten der "politischen Gewalt" zwischen 1980 und 2000 sind nahezu 70.000 Menschen im Land ermordet worden oder einfach verschwunden. Die Graeueltaten teilen sich auf zwischen den staatlichen Militaers auf der einen Seite und den Terrorgruppen Leuchtender Pfad und Revolutionaere Bewegung Tupac Amaru auf der anderen. Opfer beider Seiten waren vor allem die armen, indigenen, kechuasprachigen Bauern der Sierra, die eigentlich befreit werden sollten. Es wurden ganze Doerfer ausradiert.

Ein Mahnmal in Lima erinnert an die Toten: el "ojo que llora", das "weinende Auge". Um einen grossen Stein, dem heilende Kraefte zugesprochen werden, legt sich ein Labyrinth aus kleinen Steinen, und jeder von ihnen traegt einen Namen, den Namen eines Toten.





Und wenn wir schon bei Graesslichkeiten der Geschichte sind: Am 29. August jaehrt sich zum 18. Mal die Entfuehrung und Ermordung nahezu des gesamten Studentenrats der Universitaet San Marcos in Guatemala-Stadt im Jahr 1989. Eine Geschichte und ein Plakat aus Mittelamerika. Gegen das Vergessen. Unter meiner Einladung zur Gedenkveranstaltung stand: Los mártires no se lloran, se imitan. Die Maertyrer beweint man nicht, man macht es ihnen nach . . .




Sonntag, 19. August 2007

Nach dem Beben (II)

Neben dem historischen Rathaus des Nobelviertels Miraflores in Lima haben sie in aller Eile ein Zelt aufgestellt. Davor stapeln sich Sechserpakete mit Wasserflaschen, innen türmen sich Tüten mit Kleidung und Medikamenten, an der Absperrung warten Menschen. Sie stehen an, um zu helfen.

"Drei Flaschen Wasser?", fragt der junge Mann mit der orangenen Schutzweste die Nächste in der Reihe. Er schaut nicht einmal auf, notiert nur Spende und Spenderin in einem Schulblock: Graciela, drei Flaschen. Sie stellt ihre Gaben auf den Tisch, unterschreibt und geht wieder.

Die 26-Jährige hat das heftige Erdbeben, das am Mittwochabend Peru erschütterte und ganze Regionen des südamerikanischen Landes verwüstete, unbeschadet überstanden. Es war das stärkste Beben seit fast 40 Jahren in diesem Land, und obwohl die Hausangestellte nur 50 Euro im Monat verdient, will sie denen helfen, die weniger Glück hatten als sie. "Heute für die anderen, morgen für uns", sagt Graciela. Die anderen, das sind die Menschen in der Provinz, Menschen in Orten wie Ica, Pisco, Cañete oder Chincha. Menschen, die man hier normalerweise nicht wahrnimmt.

Doch mehr als 500 Tote und 130000 Obdachlose allein in der Stadt Pisco kann man nicht mehr ignorieren. Immer mehr Horrormeldungen dringen aus den südlichen Provinzen in die Hauptstadt: Tote, Vermisste, Überschwemmungen, Erdrutsche, Plünderungen. In Lima sind die meisten mit dem Schrecken davongekommen. Der allerdings steckt ihnen noch tief in den Knochen. Bei den unzähligen Nachbeben bricht immer wieder Panik aus, wenn auch Tage nach der Katastrophe wieder die Mauern beben, der Boden wankt. Die Menschen trauen ihren von Rissen durchzogenen Häusern nicht mehr, schlafen auf den Straßen, trotz der winterlichen Temperaturen.

Die eigene Unsicherheit weckt die Solidarität mit denen, die alles verloren haben. Behörden, Firmen und Einzelpersonen eröffnen überall in Lima Sammelstellen. Es wurde eine Luftbrücke in das Katastrophengebiet eingerichtet. Die internationale Gemeinschaft sagte Hilfe in Höhe von 40 Millionen Dollar zu. Am Rathaus in Miraflores ist man stolz darauf, dass man schon am Freitagabend fünf Lastwagen mit Hilfsgütern in den Süden des Landes schicken konnte. Denn vom Süden ging das Beben aus, das die Stärke acht erreichte und mehr als zwei Minuten andauerte.

Das Epizentrum lag etwa 60 Kilometer westlich der Kleinstädte Cañete und Pisco im Pazifik. Die meisten Peru-Reisenden kennen diese Gegend. Das Pisco-Museum, die Mumien der Paracas-Kultur, die Vogelwelt der Ballestas-Inseln oder die bizarren Formen der Steilküste. Die Zukunft wird um einige Sehenswürdigkeiten ärmer sein. Was nicht durch die Erdstöße zerstört wurde, holte sich das Meer. Manche Fischerorte wurden komplett von den Flutwellen überspült, die spektakuläre Felshöhle mit dem Namen "Kathedrale" ist in sich zusammengebrochen.

Auch im Hinterland von Cañete, etwa 135 Kilometer südlich von Lima, sieht seit Mittwoch vieles anders aus. Die Piste, die von der Panamericana in das Dorf La Quebrada führt, ist von Erdrissen durchzogen. An manchen Stellen bricht der Boden einen halben Meter ab. Bauern ruckeln mit Ochsenkarren durch abgeerntete Felder. Sie sammeln Brennmaterial, es gibt noch immer keinen Strom, viele Dörfer sind komplett von der Außenwelt abgeschnitten.

Kaum hat sich der Staub gelegt, den der Konvoi aus acht Pick-ups bei seiner Ankunft in La Quebrada aufwirbelt, drängeln sich Menschen um die Autos. Frauen und Kinder klopfen an die Scheiben, verzweifelt, wütend. "Wir haben kein Wasser und seit Tagen nichts gegessen. Niemand hat sich bisher um uns gekümmert."

Wie in La Quebrada warten in vielen anderen Dörfern die Menschen Tage nach dem Beben noch auf Hilfe. Manche sind so verzweifelt, dass sie auf der Suche nach Nahrung Lastwagen stoppen und Geschäfte überfallen. Da wirkt der Satz von Staatspräsident Alan García aus dem Katastrophengebiet nahezu grotesk. "Niemand wird verhungern oder verdursten", hatte er bei seiner Stippvisite in Pisco gesagt. Dann schickte er Soldaten in die Region. Die sollen jetzt für Ordnung sorgen. Alan García hat die Sicherheitskräfte angewiesen, hart durchzugreifen und, wenn nötig, eine Ausgangssperre zu verhängen.

Die Katastrophe entblößt einmal mehr die Schwächen des Landes. Der Staat ist in großen Teilen nicht präsent und von jeher zentralistisch und bürokratisch organisiert. Was nicht in Lima stattfindet, findet gar nicht statt. Vor kurzem erst wurde begonnen, Verantwortlichkeiten und Budgets auf untere Ebenen zu übertragen. Die lokalen Behörden und Politiker sind darauf aber gar nicht vorbereitet.

Bürgermeister sind in vielen Fällen mit nur 20 Prozent der Wählerstimmen zu ihrem Amt gekommen und kennen oft nicht einmal ihre Kompetenzen. Manche Rathäuser in der Provinz gleichen einem Schülerparlament. Man hat in den vergangenen Jahrhunderten gelernt, dass Lima die Sache schon regeln wird.

Solche Schwächen wiegen in Krisenzeiten doppelt schwer, wenn es darauf ankommt, möglichst rasch zu handeln. So vieles müsste getan werden: Listen über Tote, Vermisste und Schäden sollten erstellt, Hilfslieferungen verteilt, Särge organisiert, Opfer begraben, Rettungsarbeiten koordiniert und Plünderungen verhindert werden.

Distriktbürgermeister Arturo Antezana wird mit Kritik überhäuft, als er in La Quebrada endlich aus dem Wagen steigt. Er steht hilflos mit ein paar Zetteln in der Hand in der Menge und versucht, sich Gehör zu verschaffen. Die Menschen reden auf ihn ein, sie wollen Wasser, und sie wollen es sofort. Keiner hört dem Bürgermeister zu. "Schau dir die Schäden an", rufen sie ihm zu. In dem Ort ist das Trinkwasser seit vergangenem Mittwoch braun und ungenießbar, 85 Prozent der Häuser sind zerstört oder unbewohnbar.

Eine Frau steht da, 50 Jahre alt, herbes, verbittertes Gesicht. Sie hält sich ihre Jacke zu, eine ihrer Töchter hüpft überdreht um sie herum. Das Haus, vor dem sie steht, ist aus Lehmziegeln und es ist leer. Das Wenige, was sie hatte, hat sie schon lange herausgeschafft. Sie deutet im Halbdunkel auf abgefallene Mauerstücke, auf den eingedrückten Türstock, das herabhängende Dach. Die ganze Konstruktion hat sich wie ein Kartenhaus auf die Seite geneigt. "Das bricht jeden Moment zusammen", sagt die Frau.

Die Schwachen trifft es wie immer zuerst. Sie wohnen an absturzgefährdeten Abhängen oder in Lehmziegelhäusern, die beim ersten Erdstoß zusammenbrechen. Die zehn Prozent Wirtschaftswachstum, die Peru seit Monaten feiert, kommen bei den Armen, die in manchen Regionen bis zu 85 Prozent der Bevölkerung ausmachen, nicht an. Die Frau in La Quebrada ist alleinerziehende Mutter, seit dem Beben schläft sie mit ihren drei Kinder im Freien. Sie haben nicht einmal Decken. "Wir leben hier praktisch alle auf der Straße", sagt sie. Fast das ganze Dorf campiert auf dem Fußballplatz, unter freiem Himmel oder in zusammengeschusterten Zeltkonstruktionen aus Plastiktüten. Manche haben eine Kommode gerettet, einen Schrank, einen Tisch oder ein paar Stühle.

Und mitten in diesem Chaos steht nun Arturo Antezana, überfordert und fahrig. Nach langen Diskussionen hat man sich schließlich geeinigt, pro Straßenzug sollen zwei Vertreter Trinkwasser, Lebensmittel und Kleidung entgegennehmen. Die Menschenmenge zerstreut sich langsam. Als der Konvoi endlich am Fußballplatz ankommt, wird klar, dass das mitgebrachte Wasser bei weitem nicht reicht. Die Aufregung schlägt in Wut um, die Wut verwandelt sich in Aggression. Keine körperliche Bedrohung, aber kurz davor. Der Bürgermeister bekommt es mit der Angst zu tun und flüchtet, samt Wasser und Kleidung und Lebensmitteln.

Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Dorf seinen Bürgermeister lyncht.

Arturo Antezana will die Spenden jetzt in ein anderes Dorf bringen. Aber er hat dazugelernt. Diesmal klärt eine Vorhut die Organisation vorab. Der Konvoi fährt erst in den Ort, als die Bewohner auf dem Dorfplatz geordnet in einer Schlange stehen. Um den Platz herum ist jedes einzelne Haus kaputt, sogar die Kirche ist eingefallen – nach Jahrhunderten.

Ein Bauer nähert sich den Helfern. Er bedankt sich und sagt: "Ich weiß nicht wie, aber irgendwie wird es weitergehen."

Freitag, 17. August 2007

Nach dem Beben (I)

Eindrücke aus einem Dorf in der Provinz Cañete, Region Lima, 150 Kilometer südlich der Hauptstadt.























Donnerstag, 16. August 2007

7,9 auf der Richterskala







Auf dem Schreibtisch liegen immer noch die heruntergefallenen Mauerstückchen. Der ausgeräumte Schrank steht auf den Telefonbüchern, die Bücher stapeln sich auf dem Esstisch, und der Putzeimer versperrt den Weg in die Küche. Bis in die Abstellkammer traute ich mich nur kurz vor. Dort klafft in einer Ecke ein faustgroßer Riss, eine herabgebrochene Holzverkleidung verklemmt die Tür, und auf dem Boden haben sich Wasser und Mauerbrösel zu einer kleisterartigen Masse vereint.

Es war Edbeben in Peru, 7,9 auf der Richterskala. Aber in meiner Wohnung in Lima hatte ich hauptsächlich Überschwemmung – und das ganz ohne Tsunami.

Während der zwei Minuten langen Erschütterung am Mittwochabend hatten wir uns in der Arbeit zu viert an einem Pfeiler aneinandergedrückt, unter dem grünen Schild „Sichere Zone bei Erdbeben“. Zum Glück waren alle anderen schon heimgegangen, die ganze Abteilung hätte dort nicht Platz gehabt.





Vom Pfeiler aus schauten wir auf die wackelnden Mauern und die Eingangsglasfront, die sich einen halben Meter in das Büro blähte und derentwegen wir nicht aus dem Gebäude flüchten konnten. Das Grummeln und Klirren und Schwanken hörte nicht auf. Während wir mit belegten Stimmen mutmaßten, wann die Scheiben bersten würden, holte der Kollege aus der Verwaltung seinen Stift aus der Hosentasche und sagte mit geschäftigem Blick auf die Unterlagen in seiner Hand: „Also, ich war gerade dabei, die Inventarliste zu kontrollieren. Wo habt Ihr denn die dreifächrige Metallablage stehen?“

Hinterher lachten wir darüber. Da standen wir dann wie alle in der Dunkelheit auf der Straße herum, und jeder hielt sein Handy ans Ohr. Aber die Netze waren längst zusammengebrochen. Die Kollegen erzählten vom großen Erdbeben in den Siebzigern, als in Lima die Straßen aufbrachen und in den Anden ein ganzes Dorf verschwand. Als die ersten mit dem Taxi nach Hause wollten, verlangten die Fahrer plötzlich den vierfachen Preis.

Mir zitterten noch ein bisschen die Knie, als ich mich im Auto auf den Heimweg machte. Der Radiosprecher verlas Totenmeldungen, dann stellten er einen Hörer durch. Es war ein Fischer aus Punta Hermosa im Süden Limas. Das Meer sei so komisch und draußen hätten sie Lichterscheinungen gesehen. Der Moderator kündigte Nachbeben für die gesamte Woche an. Dann plötzlich Aufregung in seiner Stimme: „Eilmeldung:Tsunamiwarnung in Peru und Ecuador.“ Ich bog prompt falsch ab, was mich wegen der Einbahnstraßen, des Staus und der ausschwärmenden Krankenwagen eine halbe Stunde kostete.

Der Parkplatz vor dem Haus war voll. Nicht mit Autos, nein, mit herabgestürzten Mauerteilen und aufgelösten Nachbarn. „Ich weiß nicht, ob sie da heute übernachten können. Schauen Sie erst mal, wie´s drinnen aussieht!“, sagte die Verwalterin mit zuckenden Schultern. Durch das Beben war die Hauptwasserleitung des Hochhauses zerborsten, Teile des Tanks vom Dach herabgebrochen.

Der Weg vom Eingang in die Wohnung glich dem Pfad in einer Tropfsteinhöhle. Der Aufzug war außer Betrieb. Knöcheltief stand das Wasser im Treppenhaus, von überallher tropfte es. Die runzelige Hausangestellte von nebenan steckte den Kopf aus der Tür. „Fräulein, drehen Sie gleich die Sicherung heraus!“ Kurz darauf stand sie mit einem Besen bei mir im Wohnzimmer und half mir in der Dunkelheit, den See nach draußen zu wischen. Nach einer Stunde sahen wir Land, und sie sagte: „Jetzt suchen Sie sich besser ein Nachtquartier, Fräulein!“

Was steckt man ein in Katastrophenfällen? Ist überhaupt noch Katastrophe? Kommt wirklich ein Tsunami? Wie lange würde ich bei Freunden übernachten müssen? Ich holte Pässe, Tan-Nummern und Kreditkarten aus dem Schreibtisch, steckte Schlafanzug, frische Wäsche und meine externe Computerfestplatte ein, stopfte das Zahnputzzeug dazu und schulterte den Schlafsack.

„Tut mir leid, ich schlafe selbst bei Freunden. In meiner Wohnung im 15. Stock ist mir einfach nicht wohl“, sagte der Kollege, als ich endlich wieder ein Netz hatte und auf seinem Handy durchkam. Er hatte während des Bebens seinen Teppich ruiniert – er war gerade dabei gewesen, sich ein Glas Wein einzuschenken. „Hola, ich bin gerade im Supermarkt und kaufe Batterien für die Taschenlampe und das Radio“, sagte die Kollegin. Sie wusste, was man in Katastrophenfällen tut. Diese Nacht war ich gut aufgehoben.

Das Handy klingelte. Um ein Uhr nachts. Um zwei Uhr nachts. Um drei Uhr nachts. „Ja, ja, mir geht´s gut.“ Blöde Zeitverschiebung nach Deutschland. Um acht fuhr ich zurück zu mir. Vor dem Haus stand schon ein Lastwagen mit Kabeltrommeln, ein Dutzend Handwerker wuselte durch das Treppenhaus. Ab Mittag sollte es wieder Wasser und Strom geben. Als der Wohnungsbesitzer endlich auftauchte, amüsierte er sich. „Sie sind aber ängstlich. Wohl noch nie ein Erdbeben erlebt?“, frotzelte er. Dann hielt er einen langen Vortrag über erdbebensichere Bauweise und versprach trotzdem, noch für den selben Tag Handwerker und Statiker zu organisieren. Ich hatte mit Auszug gedroht.
In der Arbeit schickten sie uns wieder heim, die Schulen blieben zu, die Ärzte sagten ihren dreitägigen Streik ab, ein Stadtviertel in Lima wurde evakuiert, die Totenmeldungen erhöhten sich, und im Park gegenüber spielen sie schon wieder Tennis. Die Wohnung gleicht einer kalten Sauna, und das Festnetz funktioniert immer noch nicht. So sitze ich an meinem Schreibtisch mit den heruntergefallenen Mauerstückchen und schaue auf die schäumenden Pazifikwellen, die an die Steilküste donnern, und warte. Nicht auf den Tsunami, diese Warnung ist zurückgenommen. Nein, auf die Handwerker.

Dienstag, 14. August 2007

Fiesta bávara



Jetzt bin ich schon ein halbes Jahr hier, und das habe ich gefeiert - mit Sauerkraut! Weil es das erste Mal war, habe ich mindestens zweieinhalb der fünf Portionen, die angeblich in dem Glas sind, auf einmal verdrückt. Und weil wir gerade bei Heimatlichem sind: Unten mein liebstes Dekorationsstück. Ein Geschenk von Carola. Das Hemd kann man wenden, auf der anderen Seite zeigt es eine Sennerin mit Knecht vor lieblichem Alpenblick. Das Wechselbild - immer dabei, immer neu!


Donnerstag, 9. August 2007

Heilige Hallen




Dem Hauptsitz der Defensoría del Pueblo in der Altstadt von Lima fehlt es nicht an Glanz. Beim Antreten zum Nationalfeiertag, Pflichttermin für uns alle, haben sie - wegen des Niesels draußen - die Flagge in der Halle gehisst. Es hat keiner gemerkt, dass ich den Text der Nationalhymne nicht konnte, und die Rede der Chefin dauerte dann auch nur eine halbe Stunde. Anschließend gab´s für jeden ein Glas Chicha morada, ein Getränk aus schwarzem Mais, und eine Wurstsemmel.

Rechts und links der Säulen stehen die Schreibtische, wo an normalen Tagen die Kollegen arbeiten, die die Beschwerden der Bürger entgegennehmen. Die warten oft in langen Schlangen, um sich über korrupte Beamte, zu hohe Stadtrechnungen, faule Lehrer oder schlechte Behandlung in staatlichen Krankenhäusern zu beklagen. Die Defensoría del Pueblo ist nicht selten die letzte Instanz für Menschen, die sonst nicht zu ihrem Recht kommen - und in einigen entlegenen Regionen des Landes die einzige Vertreterin des Staates, die sich überhaupt mal blicken lässt.

An manchen Tagen füllt die Berichterstattung über die Erklärungen, Studien, Gesetzesvorschläge und Stellungnahmen der Defensoría del Pueblo bis zu drei Seiten des Comercio, der größten Tageszeitung Perus. Es gibt praktisch keinen Tag, an dem die Behörde nicht zumindest in irgendeinem Artikel erwähnt wird. Der monatliche Bericht über die sozialen Konflikte im Land von der Unidad de Conflictos Sociales ist dem Comercio meistens eine eigene Seite wert.

Allerdings gefällt das nicht allen, und am allerwenigsten der Regierungspartei. Vor allem in den vergangenen Wochen ist die Defensoría del Pueblo von dieser Seite noch stärker angegriffen worden als sonst. Es hat dem Präsidenten nicht gefallen, dass es Widerworte gegen seine Verschwörungstheorie gab. Alan García wollte den Peruanern glauben machen, dass die sozialen Unruhen im Land von linksextremistischen Kräften aus Bolivien und Venezuela angestachelt wurden... Über so viel Unsinn kann man nicht mal mehr lachen.

Aber so suspekt den Regierungspolitikern (und anderen natürlich auch) die Defensoría del Pueblo ist, weil sie eben nicht so spurt, wie man das gerne hätte, so suspekt ist unsere Abteilung dem Rest der Behörde. Die beschäftigt nämlich im gesamten Land ausschließlich Juristen - mit eben einer einzigen Ausnahme: der Unidad de Conflictos Sociales.

Soziologen, Ethnologen und Philosophen stehen ohnehin im Ruf, die falsche Gesinnung zu haben, und wenn sie dann auch noch von ganz bestimmten Universitäten kommen, tstststs, da weiß man doch schon, woher der Wind weht. Dummerweise ist Peru klein, also zumindest was die Zahl der Einwohner (28 Millionen) angeht, und die akademische Welt ist noch kleiner, und wer in seiner Zeit an der Uni mal in irgendeiner falschen Partei Studentenführer war, der zittert heute, dass das auffliegt. Da viele der Posten in der Defensoría quasi halbpolitisch sind, kann einem das schnell den Kopf kosten.

So führt die Unidad ein Inseldasein in jeder Hinsicht, auch geografisch. Wir sind weit weg von der Zentrale in einem Ladenlokal in einem abgetakelten Einkaufszentrum des Nobelviertels San Isidro untergebracht. Nicht ganz so glanzvoll wie am Hauptsitz. Dafür gibt´s bei uns keine Kleiderordnung - die festangestellten Kollegen besitzen ausser den grellblauen Schutzwesten sogar eine Defensoría-Uniform - und neuerdings einen Fernseher. Nun läuft statt des Radios den ganzen Tag die Glotze.


Mittwoch, 8. August 2007

Collage



Samstag, 4. August 2007

American Highway






Wer schon immer mal auf der Panamericana durch den Kontinent düsen wollte: Das ist sie. Also jedenfalls in Barranca, vier Busstunden nördlich von Lima.

Und wer schon immer mal wissen wollte, wie man in einem kleinen schwarzen VW Golf gegen psychopatische Taxifahrer, Buschauffeure mit Rambomanieren, Wochentagsausflügler ohne Führerschein und Nummernschild und suizidgefährdete Pizzalieferanten in einer Stadt voller Einbahnstraßen, Stau und Schlaglöchern, auf Wegen ohne Beschilderung, Ampeln und Vorfahrtsregeln überlebt - demnächst in diesem Kino.

Mittwoch, 1. August 2007

Daheim bei den Apus




Die Apus sind die Berggötter. Davon gibt es in Peru jede Menge. In der Cordillera Blanca wohnen die Berggötter besonders weit oben, was einem gerne Kopfschmerzen, Übelkeit, Schlaflosigkeit und andere Zipperlein verursacht. Um in Huaráz, auf 3100 Metern Höhe, in mein Zimmer im dritten Stock des Hotels zu kommen, musste ich auf der Treppe zwei Pausen einlegen.


Aber die Ausblicke entschädigen für alles. Erst recht, wenn man in netter Begleitung unterwegs ist: Meine SZ-Kollegin Antje Weber und ihr Mann Joachim wohnen seit einem Jahr in Quito (Ecuador) und erkundeten mit ihrem Auto den Norden Perus. Ein wunderbares Treffen - und das entspannteste Wochenende des letzten halben Jahres.



Der Blick von meinem Hotelzimmer.



Huaráz bei Sonnenuntergang.



Die Stadt von oben mit Blick auf die Cordillera Negra - die Berge ohne Gletscher auf der anderen Seite des Tals.





Der Sitz des Alphabetisierungsprogramms von San Martin.


Antje und Joachim bei den präinkaischen Ruinen von Willkawain.







Am Gletschersee - geschafft!



Und zum Abschluss ein Sprung ins Thermalbad von Monterrey!


Ich denke übrigens gerade darüber nach, wie ich es schaffe, dass ich nach Huaráz versetzt werde - damit ich von dort jeden Tag auf die Ramsauer Alm hochlaufen kann, wo Markus und Karin im Waschzuber sitzen, Peter Geburtstagstortenkerzen ausbläst, Helmi Bratwürstel grillt, Margit unterm Hirschgeweih posiert, Alex altes-kino-Jubiläumstexte vorstellt und wo´s Apfelschorle und Flötzinger Bräu gibt und Sonne und gitarrespielende junge Männer und Kamerafachgespräche mit Oli...


Uuups? Jetzt, glaub ich, bin ich in einem anderen Film gelandet.






Schöne Grüße an die bayerischen Apus - und ich lade zum altes-kino-Stammtisch zu mir ein!