Sonntag, 19. August 2007

Nach dem Beben (II)

Neben dem historischen Rathaus des Nobelviertels Miraflores in Lima haben sie in aller Eile ein Zelt aufgestellt. Davor stapeln sich Sechserpakete mit Wasserflaschen, innen türmen sich Tüten mit Kleidung und Medikamenten, an der Absperrung warten Menschen. Sie stehen an, um zu helfen.

"Drei Flaschen Wasser?", fragt der junge Mann mit der orangenen Schutzweste die Nächste in der Reihe. Er schaut nicht einmal auf, notiert nur Spende und Spenderin in einem Schulblock: Graciela, drei Flaschen. Sie stellt ihre Gaben auf den Tisch, unterschreibt und geht wieder.

Die 26-Jährige hat das heftige Erdbeben, das am Mittwochabend Peru erschütterte und ganze Regionen des südamerikanischen Landes verwüstete, unbeschadet überstanden. Es war das stärkste Beben seit fast 40 Jahren in diesem Land, und obwohl die Hausangestellte nur 50 Euro im Monat verdient, will sie denen helfen, die weniger Glück hatten als sie. "Heute für die anderen, morgen für uns", sagt Graciela. Die anderen, das sind die Menschen in der Provinz, Menschen in Orten wie Ica, Pisco, Cañete oder Chincha. Menschen, die man hier normalerweise nicht wahrnimmt.

Doch mehr als 500 Tote und 130000 Obdachlose allein in der Stadt Pisco kann man nicht mehr ignorieren. Immer mehr Horrormeldungen dringen aus den südlichen Provinzen in die Hauptstadt: Tote, Vermisste, Überschwemmungen, Erdrutsche, Plünderungen. In Lima sind die meisten mit dem Schrecken davongekommen. Der allerdings steckt ihnen noch tief in den Knochen. Bei den unzähligen Nachbeben bricht immer wieder Panik aus, wenn auch Tage nach der Katastrophe wieder die Mauern beben, der Boden wankt. Die Menschen trauen ihren von Rissen durchzogenen Häusern nicht mehr, schlafen auf den Straßen, trotz der winterlichen Temperaturen.

Die eigene Unsicherheit weckt die Solidarität mit denen, die alles verloren haben. Behörden, Firmen und Einzelpersonen eröffnen überall in Lima Sammelstellen. Es wurde eine Luftbrücke in das Katastrophengebiet eingerichtet. Die internationale Gemeinschaft sagte Hilfe in Höhe von 40 Millionen Dollar zu. Am Rathaus in Miraflores ist man stolz darauf, dass man schon am Freitagabend fünf Lastwagen mit Hilfsgütern in den Süden des Landes schicken konnte. Denn vom Süden ging das Beben aus, das die Stärke acht erreichte und mehr als zwei Minuten andauerte.

Das Epizentrum lag etwa 60 Kilometer westlich der Kleinstädte Cañete und Pisco im Pazifik. Die meisten Peru-Reisenden kennen diese Gegend. Das Pisco-Museum, die Mumien der Paracas-Kultur, die Vogelwelt der Ballestas-Inseln oder die bizarren Formen der Steilküste. Die Zukunft wird um einige Sehenswürdigkeiten ärmer sein. Was nicht durch die Erdstöße zerstört wurde, holte sich das Meer. Manche Fischerorte wurden komplett von den Flutwellen überspült, die spektakuläre Felshöhle mit dem Namen "Kathedrale" ist in sich zusammengebrochen.

Auch im Hinterland von Cañete, etwa 135 Kilometer südlich von Lima, sieht seit Mittwoch vieles anders aus. Die Piste, die von der Panamericana in das Dorf La Quebrada führt, ist von Erdrissen durchzogen. An manchen Stellen bricht der Boden einen halben Meter ab. Bauern ruckeln mit Ochsenkarren durch abgeerntete Felder. Sie sammeln Brennmaterial, es gibt noch immer keinen Strom, viele Dörfer sind komplett von der Außenwelt abgeschnitten.

Kaum hat sich der Staub gelegt, den der Konvoi aus acht Pick-ups bei seiner Ankunft in La Quebrada aufwirbelt, drängeln sich Menschen um die Autos. Frauen und Kinder klopfen an die Scheiben, verzweifelt, wütend. "Wir haben kein Wasser und seit Tagen nichts gegessen. Niemand hat sich bisher um uns gekümmert."

Wie in La Quebrada warten in vielen anderen Dörfern die Menschen Tage nach dem Beben noch auf Hilfe. Manche sind so verzweifelt, dass sie auf der Suche nach Nahrung Lastwagen stoppen und Geschäfte überfallen. Da wirkt der Satz von Staatspräsident Alan García aus dem Katastrophengebiet nahezu grotesk. "Niemand wird verhungern oder verdursten", hatte er bei seiner Stippvisite in Pisco gesagt. Dann schickte er Soldaten in die Region. Die sollen jetzt für Ordnung sorgen. Alan García hat die Sicherheitskräfte angewiesen, hart durchzugreifen und, wenn nötig, eine Ausgangssperre zu verhängen.

Die Katastrophe entblößt einmal mehr die Schwächen des Landes. Der Staat ist in großen Teilen nicht präsent und von jeher zentralistisch und bürokratisch organisiert. Was nicht in Lima stattfindet, findet gar nicht statt. Vor kurzem erst wurde begonnen, Verantwortlichkeiten und Budgets auf untere Ebenen zu übertragen. Die lokalen Behörden und Politiker sind darauf aber gar nicht vorbereitet.

Bürgermeister sind in vielen Fällen mit nur 20 Prozent der Wählerstimmen zu ihrem Amt gekommen und kennen oft nicht einmal ihre Kompetenzen. Manche Rathäuser in der Provinz gleichen einem Schülerparlament. Man hat in den vergangenen Jahrhunderten gelernt, dass Lima die Sache schon regeln wird.

Solche Schwächen wiegen in Krisenzeiten doppelt schwer, wenn es darauf ankommt, möglichst rasch zu handeln. So vieles müsste getan werden: Listen über Tote, Vermisste und Schäden sollten erstellt, Hilfslieferungen verteilt, Särge organisiert, Opfer begraben, Rettungsarbeiten koordiniert und Plünderungen verhindert werden.

Distriktbürgermeister Arturo Antezana wird mit Kritik überhäuft, als er in La Quebrada endlich aus dem Wagen steigt. Er steht hilflos mit ein paar Zetteln in der Hand in der Menge und versucht, sich Gehör zu verschaffen. Die Menschen reden auf ihn ein, sie wollen Wasser, und sie wollen es sofort. Keiner hört dem Bürgermeister zu. "Schau dir die Schäden an", rufen sie ihm zu. In dem Ort ist das Trinkwasser seit vergangenem Mittwoch braun und ungenießbar, 85 Prozent der Häuser sind zerstört oder unbewohnbar.

Eine Frau steht da, 50 Jahre alt, herbes, verbittertes Gesicht. Sie hält sich ihre Jacke zu, eine ihrer Töchter hüpft überdreht um sie herum. Das Haus, vor dem sie steht, ist aus Lehmziegeln und es ist leer. Das Wenige, was sie hatte, hat sie schon lange herausgeschafft. Sie deutet im Halbdunkel auf abgefallene Mauerstücke, auf den eingedrückten Türstock, das herabhängende Dach. Die ganze Konstruktion hat sich wie ein Kartenhaus auf die Seite geneigt. "Das bricht jeden Moment zusammen", sagt die Frau.

Die Schwachen trifft es wie immer zuerst. Sie wohnen an absturzgefährdeten Abhängen oder in Lehmziegelhäusern, die beim ersten Erdstoß zusammenbrechen. Die zehn Prozent Wirtschaftswachstum, die Peru seit Monaten feiert, kommen bei den Armen, die in manchen Regionen bis zu 85 Prozent der Bevölkerung ausmachen, nicht an. Die Frau in La Quebrada ist alleinerziehende Mutter, seit dem Beben schläft sie mit ihren drei Kinder im Freien. Sie haben nicht einmal Decken. "Wir leben hier praktisch alle auf der Straße", sagt sie. Fast das ganze Dorf campiert auf dem Fußballplatz, unter freiem Himmel oder in zusammengeschusterten Zeltkonstruktionen aus Plastiktüten. Manche haben eine Kommode gerettet, einen Schrank, einen Tisch oder ein paar Stühle.

Und mitten in diesem Chaos steht nun Arturo Antezana, überfordert und fahrig. Nach langen Diskussionen hat man sich schließlich geeinigt, pro Straßenzug sollen zwei Vertreter Trinkwasser, Lebensmittel und Kleidung entgegennehmen. Die Menschenmenge zerstreut sich langsam. Als der Konvoi endlich am Fußballplatz ankommt, wird klar, dass das mitgebrachte Wasser bei weitem nicht reicht. Die Aufregung schlägt in Wut um, die Wut verwandelt sich in Aggression. Keine körperliche Bedrohung, aber kurz davor. Der Bürgermeister bekommt es mit der Angst zu tun und flüchtet, samt Wasser und Kleidung und Lebensmitteln.

Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Dorf seinen Bürgermeister lyncht.

Arturo Antezana will die Spenden jetzt in ein anderes Dorf bringen. Aber er hat dazugelernt. Diesmal klärt eine Vorhut die Organisation vorab. Der Konvoi fährt erst in den Ort, als die Bewohner auf dem Dorfplatz geordnet in einer Schlange stehen. Um den Platz herum ist jedes einzelne Haus kaputt, sogar die Kirche ist eingefallen – nach Jahrhunderten.

Ein Bauer nähert sich den Helfern. Er bedankt sich und sagt: "Ich weiß nicht wie, aber irgendwie wird es weitergehen."

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hallo Uschi!
Als ich deinen Artikel in der Zeitung las, wäre ich am liebsten ins nächste Flugzeug gestiegen um mitzuhelfen.... aber was hätte Julchen dazu gesagt, wenn die Mama weg ist...

Der Artikel ist super gut geschrieben. Mach weiter so!

Viele liebe Grüße
Gisela