Mittwoch, 28. März 2007

Lima im März






Gerade noch rechtzeitig heimgekommen. Ich lege Susana Baca auf und setze mich mit Bier und Zigarette auf den Balkon. Am Horizont, wo das Meer die Krümmung Richtung Tahiti hinunterfließt, färbt sich die Wolkenbank in Blut, und über Steilküste, Palmen und Hochhäusern schweben Nebelfetzen in transparentem Rosa. Direkt vor mir hängen Mondsichel und Abendstern am Himmel. Bis jetzt ist mir auch zu Hause noch keinen Abend langweilig geworden.

Mein neues Zuhause: Im Geschaeftszentrum der Acht-Millionen-Stadt, zwei Blocks vom Meer entfernt an einem Einschnitt in der Steilküste mit Blick auf eben dieses abendliche Panorama. Die Wohnungsbesitzerin in der Schweiz hatte dann doch nachgegeben - und ihr Soehnchen habe
ich bereits erfolgreich neutralisiert.

Abgesehen von Balkon und Panorama habe ich ein Gästezimmer, eine Waschmaschine und einen Dienstboteneingang. Den habe ich zugesperrt. Wenn ich freitags nach Hause komme, ist die Wohnung sauber, und auf dem Tisch liegt ein Zettel von meiner Putzfrau, der allerersten ueberhaupt in meinem Leben. Graciela schreibt: „Gott möge Dich beschützen.“

Das ist hier nicht so dringend wie anderswo. Auch nachts kann ich ohne Probleme zu Fuß ausgehen, und fast überall bin ich in zehn Minuten. Auch in der Arbeit. Dahin fahre ich allerdings mit einem Minibus, der alle paar Minuten mein Haus passiert.

Unter den Fahrgaesten sitzt meistens eine hochschwangere junge Frau: Morgens stopft sie aus einem Türkenkoffer Handyhüllen und Sonnenbrillen in ein Wimmerl, in die Taschen einer Army-Weste und eines rotkarierten Männerhemdes Größe XXXXL. Abends packt sie das nicht verkaufte Zeugs in den Türkenkoffer zurück. Wahrscheinlich arbeitet sie an einer Kreuzung der Panamericana. Nur vergangenen Freitag sah ich sie nicht. Ich war spät dran - wie alle. Für mich blieb nur der Platz außen an der Tür.

Ich fahre jeden Tag in die Arbeit. In den ersten drei Wochen habe ich allerdings nicht wirklich etwas getan. Zwei Wochen lang hatten wir einen Workshop, weil eine deutsche Organisation in Bolivien meiner Abteilung, der Einheit für soziale Konflikte in der Defensoria del Pueblo, ein Computerprogramm schenkt. Das bastelten zwei Bolivianer während der 14 Tage nach unseren Anweisungen um.


Nur für meine Kollegen wurde es plötzlich ein bisschen stressig. Dem Kongress fiel ein, dass er einen Bericht über die Umweltkonflikte im Land haben möchte. Sofort. Nachts dann erschoss das Militär bei einer Konfrontation in den Anden in einem Ort namens Huachocolpa drei Überbleibsel der maoistischen Guerrilla-Organisation Leuchtender Pfad, von der ich eigentlich dachte, dass es sie gar nicht mehr gibt. Später stellte sich heraus, dass mindestens einer der Maenner unbewaffnet und gar kein Terrorist war.

Um das herauszufinden, machte sich der Kollege Jean Carlo auf den Weg in die Provinzhauptstadt Huancavelica: 18 Stunden mit dem Bus. Am Ziel stellte er fest, dass er von dort gar nicht in das Dorf Huachocolpa kommt. Er musste mit dem Bus acht Stunden zurueckfahren, und dann brauchte er immer noch weitere sechs Stunden bis in den Ort. Dabei ist ihm dann auch noch das Geld ausgegangen.

Am Freitag kehrte Jean Carlo zurück, und er berichtete ausführlich. In der Region ist der Staat nicht präsent, sie ist „befreite Zone“. Als das Militär dort jetzt auftauchte, war es das erste Mal seit Jahren. Die Gegend ist Rückzugsort des Sendero Luminoso, der dort sein Geld damit verdient, dass er Drogenkurieren Geleitschutz gibt. Jean Carlo flog auf dem Rückweg mit einem Militärhubschrauber mit, weil vier Murenabgänge die einzige Straße in den nächsten größeren Ort versperrt hatten. Er schwört, dass er vom Landeplatz im Talkessel an den umliegenden Bergen die Senderistas ausmachen konnte. Sogar der Pilot habe beim Abheben vor Angst geschwitzt.

Die Chefriege in der Behörde

Da geht es im Buero schon gemuetlicher zu. Meine Kollegen Gustavo und Pablo haben mich in ihren Mittagskreis aufgenommen. Pablo legt Wert darauf, dass wir auch frische Luft bekommen – wir arbeiten in einem Raum ohne Fenster und Tageslicht, der ungefähr so groß ist wie bei manchen Leuten das Bad. Deshalb wandeln wir nach dem Essen in einem der Fünf-Soles-Lokale (1,25 Euro für eine substantielle Suppe und das Hauptgericht) noch eine ganze Weile durch den angrenzenden Olivenpark. Das ist dem Arbeitsklima zuträglich und sehr unterhaltsam - und außerdem ist meine Pause nun eine Stunde länger. Abgesehen davon muss ich während des Flanierens meinen Nikotinspiegel auffrischen. Im Büro ist Rauchen verboten – so wie in allen geschlossenen Räumen. Eigentlich.


Gustavo ist ein sehr junger Philosoph, der fast Mönch geworden wäre. Ein lateinamerikanischer Intellektueller, der bei den Jesuiten studierte und unter Schlaflosigkeit leidet. Sehr eigen, aber durchaus nett. Pablo ist ein lieber ruhiger Familienvater im fortgeschrittenen Alter, der immer etwas gedämpft spricht und dem der Schalk in den Augen sitzt. Miguel, Jean Carlo und Rocio, alle drei so neu wie ich, versorgen sich irgendwie anderweitig. Sandra, mit der ich am engsten zusammenarbeite, fährt mittags zum Essen nach Hause. Sie ist das Herz der Abteilung: ein kompetentes Mädel, sehr typisch in ihrer Art, Dinge zu organisieren und dann doch oft aufzuschieben. Sehr untypisch für hier in ihrer Direktheit und in ihrem Pflichtbewusstsein. Und in ihrem Alkoholkonsum.



Sandra, Gustavo und ich gingen mit den zwei Bolivianern einen heben. In der Altstadt, wohin ich ausnahmsweise mehr als zehn Minuten brauche, in einer rauen Kneipe aus einem vorvergangenen Jahrhundert. So wie ich es liebe. Wir bestellten zu fünft ein halbes Rind, und es blieb nichts übrig. Wir brauchten Nachschlag. „Media res“ ist ein Paket aus einer halben Flasche Pisco, einer Flasche Ginger Ale, einer Schüssel Eiswürfel, einer Schüssel Zitronen, einem Fläschchen Zuckersirup und einem Fläschchen Angostura. Chilcano schmeckt - es muss nicht immer Pisco Sour sein.



In der Beschreibung fehlt nun eigentlich nur noch mein Chef Rolando. Na ja, und was soll ich da sagen? Dass ich ihn schon noch weich kochen werde? Oder er mich?



Einen tieferen Eindruck von ihm erhielt ich kuerzlich, als wir die Bolivianer zum Abschied mittags zum Essen einluden. Meine Kollegen quetschten sich alle in das erste Taxi. Also blieb ich mit ihm und den zwei Bolivianern für das zweite Taxi übrig. Wir fuhren eine Minute später weg als die anderen und kamen eine halbe Stunde später an als sie.


Es war zwar ein Tisch in dem Lokal bestellt, in dem die Abteilung inklusive Chef schon immer besondere Anlässe feiert. Der Chef aber dirigierte uns ins falsche Stadtviertel, wusste nicht, wohin, und war sich zu schön, das zuzugeben. Als wir uns endlich nach langer Irrfahrt zu den Kollegen an den Tisch setzten, rief er ihnen mit hochrotem Kopf und in schneidendem Ton zu: „Ich hoffe, dass Eure Informationen in der Arbeit genauer sind.“ Für den Rest des Tages sprach er mit ihnen keinen Ton mehr.



Das Lokal war übrigens eine Hähnchenbraterei. „Habt Ihr schon mal gebratenes Hähnchen gegessen?“, fragte mein Chef die zwei Bolivianer. „Das ist eine peruanische Spezialität!“ Die zwei Bolivianer schauten irritiert, sie hatten gerade Lektion Nummer eins in Landeskunde gelernt. Jedes Essen auf der Welt, das es auch in Peru gibt, ist eine peruanische Spezialität. Es gibt mehr als 4000 peruanische Spezialitäten - aber ich habe ja zwei Jahre Zeit. Und einen Supermarkt um die Ecke, der deutsches Weinsauerkraut, Vollkornbrot, Nutella und Erdinger Weißbier verkauft.



Aber soweit bin ich noch nicht. Tatsaechlich fuehle ich mich erstaunlich oft wie im Urlaub, vor allem wenn ich morgens aus dem Haus gehe: Die Sonne scheint, Himmel und Meer leuchten, die Stadt schlaeft noch, die Luft riecht feucht und salzig, und neulich tanzte auch noch ein Taxifahrer auf dem Gehsteig. Was fuer ein Gefuehl!

Samstag, 10. März 2007

Der erste Besucher