Freitag, 29. Dezember 2006

Mit dem Rücken zur Wand

Roberto setzt sich noch heute niemals in einem Lokal mit dem Rücken zum Raum. Der 43-Jährige achtet immer darauf, sämtliche Ausgänge im Blick zu haben. Er wechselt alle paar Monate die Wohnung. Fragen nach seiner Biographie weicht er aus, und Roberto ist auch nicht sein richtiger Name. Bruchstücke seiner Vergangenheit gibt er höchstens in sentimentalen Momenten nächtens in Kaschemmen preis. Dort pflegt er seine Traumata mit all den Liedern der kubanischen Barden Silvio Rodriguez und Pablo Milanes oder der nicaraguanischen Revolutionssänger Luis Enrique und Carlos Mejia Godoy. So hält Roberto die Erinnerung an seinen ermordeten Vater und an die toten Freunde aufrecht. Quält sich dann mit der einen Frage: Wieso habe ich überlebt? Wozu?

Vor zehn Jahren, am 29. Dezember 1996, beendete ein Friedensvertrag zwischen linken Guerillagruppen und der regierenden Oligarchie den Bürgerkrieg im mittelamerikanischen Guatemala. Er hatte 36 Jahre gedauert und war der blutigste in Lateinamerika. Eine von den UN finanzierte Wahrheitskommission dokumentierte den Horror auf 3400 Seiten: eine Million Flüchtlinge, 200 000 Tote, 45 000 Verschwundene. Mehr als 90 Prozent der Verbrechen hatten Polizei, Angehörige des staatlichen Militärs und ihre Todesschwadronen begangen.
Die Ursachen des Gemetzels sind auch heute nicht beseitigt. Die Nachfahren der Mayas, zu denen sich eine Mehrheit der Guatemalteken zählt, sind immer noch vom politischen und sozialen Leben ausgeschlossen. In den Hochlanddörfern können die meisten weder lesen noch schreiben. Ein Großteil der 13 Millionen Menschen lebt von weniger als einem Dollar pro Tag, viele hungern. Die Wirtschaft liegt danieder. Mehr als eine Million Guatemalteken sind ausgewandert.

Dabei hätte der Friedensvertrag ein Neuanfang sein können. Auch Robertos Hoffnungen waren groß. Der Guerillakämpfer war während des Bürgerkriegs aus dem Land geflohen, lebte in
Nicaragua, Kuba und im mexikanischen Chiapas. 1996 legte er die Waffen nieder und kehrte wie viele Flüchtlinge in die Heimat zurück. Damals sah er nach sechs Jahren seine Frau und seinen Sohn wieder. Seinen weiteren Kindern gab er Namen wie Victoria und Inti – Sieg und Sonne. Aber er wartete vergeblich auf Sieg und Sonne und ertränkte die Enttäuschung eine Zeitlang im Alkohol.

Die Frustration, die Roberto mit vielen seiner Landsleute teilt, kann Juan Ramón Ruiz verstehen. Der Politologe beobachtet für die guatemaltekische Menschenrechtsbehörde die Umsetzung der Friedensverträge. Ruiz zieht ein ernüchterndes Fazit: Nach zehn Jahren ist nicht einmal ein Fünftel der Vereinbarungen über den Aufbau einer gerechten und demokratischen Gesellschaft verwirklicht worden. „Es fehlt am politischen Willen zur Lösung der Probleme”, sagt er.

Dabei hatte schon einmal einer, in den fünfziger Jahren, versucht, die feudal strukturierte frühere spanische Kolonie zu erneuern. Der demokratisch gewählte Präsident Jacobo Arbenz Guzmán wurde jedoch rasch durch US-finanzierte Putschisten vertrieben, die sofort alle Reformen stoppten. So ist die Landfrage bis heute nicht gelöst: Immer noch besitzt eine reiche europäisch-stämmige Minderheit fast den gesamten fruchtbaren Boden. Aber viel Land liegt brach.

So, wie in der Umgebung der Kleinstadt Morales im Bezirk Izabal im Osten des Landes. In dem breiten Tal zwischen zwei Gebirgszügen nahe der Karibikküste kämpfen sieben Gemeinden um Grund zum Anbau von Mais und Bohnen. Die landlosen Bauern essen Tortilla mit Salz, morgens, mittags, abends. Sie sitzen mit Cowboyhut über den hageren Gesichtern auf dem Dorfplatz und berichten von den Versuchen, brachliegende Ländereien zu besetzen und mit Hilfe eines staatlichen Kreditfonds zu kaufen. Mehr als zwei Dutzend ihrer Angehörigen wurden bei diesem Kampf in den vergangenen Jahren ermordet. In den meisten Fällen gibt es Zeugen, wurde Anzeige erstattet. Es kam nicht zu einem einzigen Prozess. Gerade einmal zwei Haftbefehle wurden ausgeschrieben – und nie ausgeführt.

Während des Bürgerkriegs waren es staatliche Schergen gewesen, die ganze Dörfer auslöschten, weil sie die Einwohner verdächtigten, der Guerilla zuzuarbeiten. Ein am Tisch geplanter Genozid. „Heute geht die Gewalt nicht mehr vom Staat aus, aber der kann die persönliche Sicherheit nicht garantieren”, sagt Ruiz von der Menschenrechtsbehörde. Als jedoch die Vereinten Nationen vor wenigen Jahren eine Kommission einrichten wollten, um die illegalen Strukturen im Land, die Verbindungen zwischen dem organisierten Verbrechen, jugendlichen Banden, Menschen-, Waffen- und Drogenhändlern, früheren Geheimdienstmitarbeitern, privaten Sicherheitsdiensten und dem Militär zu untersuchen, lehnte das guatemaltekische Parlament ab.

Darin saß bis vor kurzem auch der Ex-Diktator Efrain Rios Montt. Unter seiner Herrschaft in den achtziger Jahren waren die grausamsten Bürgerkriegsverbrechen begangen worden. Wie Rios Montt blieben bisher so gut wie alle Täter unbehelligt. Zwar hat sich die heutige Regierung unter Präsident Oscar Berger für die Verbrechen während des Bürgerkriegs entschuldigt und will erstmals Entschädigungen an die Opfer zahlen. Aber die leiden weiter. Still. „Das Schweigen frisst dich von innen auf”, sagt Rosalina Tuyuc, die den nationalen Entschädigungsfonds und die Witwenorganisation des Landes leitet. Kein Wunder, dass Psychiater Edgar Vasquez Trujillo feststellt: „In unserem Land gibt es eine Epidemie von psychischen Störungen.” Ein Drittel der Guatemalteken hat Depressionen, Schätzungen zufolge benötigen 80 Prozent psychologische Hilfe.

So wie Roberto. Er war zwölf damals, als sie seinen Vater umbrachten. Der Sohn wollte ihn rächen und schloss sich noch als Halbwüchsiger dem Widerstand an. Als Studentenführer erlebte er, wie seine Kommilitonen plötzlich verschwanden und dann wieder auftauchten; tot und mit Folterspuren. Als er an der Reihe war, brachte ihn eine Menschenrechtsorganisation außer Landes.

„Drei für 25”, ruft Roberto in der Kneipe dem Barden zu und kramt in seiner Hosentasche nach den Quetzal-Scheinen für die drei bestellten Lieder. Der alte Mann rückt seine Gitarre über den krummen Schultern zurecht und zupft die ersten Töne. Roberto nickt, schließt die Augen und fängt an zu singen: „Ich werde in mein Dorf zurückkehren, wenn meine Kinder, denen ich immer von der Sonne erzählte, groß sind.” An den Nachbartischen haben sie aufgehört zu reden. Sie nicken. Roberto singt weiter: „Ich werde in mein Dorf zurückkehren, voll Hoffnung und mit großen Händen zum Arbeiten.” Als sich seine Augen wieder zu schmalen Schlitzen öffnen, glänzt auf beiden Wangen eine dünne Tränenspur.