Sonntag, 30. Januar 2005

El color de la sangre jamás se olvida





Gestern Nacht hatte ich mich schon ins Bett gelegt, als ich plötzlich ein Geräusch hörte. Ein sachtes pongpongpong auf dem Fensterbrett. Es regnete, das erste Mal seit Monaten. Herrlich. Ich kuschelte mich noch ein bisschen tiefer in mein Bett, und gerade beim Einschlafen kamen mir die Zeilen aus diesem Lied, das ich in Quito gekauft hatte. „Que triste suena la lluvia en los techos de carton.“ – „Wie traurig klingt der Regen auf den Dächern aus Pappe.“

Das Lied stammt von dem venezolanischen Sänger Ali Primera. Er war Kommunist, und das allein mag in München vielleicht reichen, um das Ganze für sozialkritisches Geschnulze zu halten. Aber das Lied hat Geschichte, man kennt es hier. Primeras erste CD war von der venezolanischen Regierung verboten worden, ein tödliches Vergehen war es, dieses Lied etwa während des Bürgerkriegs in El Salvador zu hören. Pappdächer gibt es auch heute noch mehr als genug auf dem Kontinent. Auch in Guatemala. Aber angesichts der Geschichte des Landes ist das Lied doch ein bisschen zu harmlos.

Gerade heute jährt sich zum 25. Mal der Brand in der spanischen Botschaft in Ciudad de Guatemala. Eine Handvoll Maya-Bauern aus den Bergen und Studenten hatte das Gebäude besetzt, um auf Massaker der staatlichen Militärs hinzuweisen, von denen niemand etwas wissen wollte. Obwohl die Bauern das Haus freiwillig wieder räumen wollten, stürmten Militärs das Gebäude, scheuchten die Menschen in ein Zimmer, sperrten es zu, zündeten es an. Bauern, Studenten und Botschaftsangehörige starben in den Flammen. Der Botschafter konnte sich retten. Er ist der einzige Überlebende. Ein anderer Überlebender war anderntags aus dem Krankenhaus entführt, gefoltert und umgebracht worden.





Angehörige der Toten wurden jahrelang verfolgt, sie kämpfen heute noch für Gerechtigkeit durch ein Gericht. „La lucha sigue, porque el color de la sangre jamás se olvida“, schrien sie am vergangenen Mittwoch, begleitet von harten Trommelwirbeln, in dem historischen Universitätssaal, in dem damals die Särge aufgebahrt worden waren. „Der Kampf geht weiter, weil die Farbe des Blutes niemals vergessen wird.“ Dazu Bilder eines neuen Dokumentarfilms: Angehörige und der damalige spanische Botschafter im Interview, das Dorf, aus dem die Bauern stammten, die Beerdigung, die mit 30.000 Teilnehmern zur Demonstration gegen die Diktatur geriet, Verhaftungsszenen, Massengräber.





Staatliche Militärs und Killerkomandos, ausgebildet durch die Nordamerikaner, brachten während des mehr als 30 Jahre dauernden Bürgerkriegs etwa 150.000 Menschen um, etwa eine Million floh. Bis heute wurde keiner der Täter verurteilt. Das Friedensabkommen, das 1996 geschlossen wurde, beinhaltet eine Amnestie für die Mörder und Folterer und die geistigen Urheber des Genozids an den Mayas.

Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú, deren Vater in den Flammen der Botschaft umkam, strengte deshalb in Spanien einen Menschenrechtsprozess nach dem Vorbild des Pinochet-Verfahrens an. Dort erließ man zur Jahreswende einen internationalen Haftbefehl gegen den Urheber des Brands in der Botschaft, den damaligen Innenminister Donaldo Álvarez Ruiz und Urheber von Todeslisten. Seither ist er verschwunden. Erst in diesem Monat hat außerdem ein Richter hier in Guatemala das Verfahren zum Botschaftsbrand wiedereröffnet, das damals nach nur 36 Tagen Gerichtsverhandlung und ohne Ergebnis geschlossen worden war. Neben Álvarez Ruiz müssten sich drei guatemaltekische Präsidenten verantworten.

Die Angehörigen der Toten aber warten nicht nur auf Gerechtigkeit, sie ziehen auch Parallelen zu heute. Immer noch ist das Land in der Hand von einigen wenigen, die anderen wohnen unter Pappdächern. Die großen Ländereien sind von privaten „Sicherheitsdiensten“ bewacht, die immer wieder in Selbstjustiz Bauern umbringen. So wie in der vergangenen Woche auf der Finca eines Ex-Präsidentschaftskandidaten.

Es gäbe viel zu schreiben aus diesem Land – wenn sich denn jemand dafür interessieren würde.

Donnerstag, 20. Januar 2005

Sonntag, 16. Januar 2005

Kakerlaken sind auch nur Tiere




Ihr würdet mich ordentlich auslachen, wenn Ihr mich gerade sehen könntet. Ich sitze an einem schmierigen Resopaltisch vor einer fleckigen Wand, mit den Füßen auf dem nächsten Stuhl, auf dem sich außerdem Teile meines Gepäcks stapeln. Ich kratze mich ständig an irgendwelchen Stellen und hoffe, dass ich diese Nacht nicht nochmal aufs Klo muss. Und dabei ist es erst kurz vor Mitternacht. Um die nervtötenden Auto-Alarmanlagen von draußen zu übertönen, habe ich passend zu Gioconda Belli, deren Erinnerungen von der nicaraguanischen Revolution ich gerade zu Ende lese, meine nicaraguanischen Rancheros in den Computer gesteckt. Kein Salsa und kein Reggaeton, denn die beschallen mich schon den ganzen Tag und den ganzen Abend bis zum Ohrkrebs von der guatemaltekischen Altstadtstraße unten, die gesäumt ist von weniger mobilen denn fest installierten CD-, Jeans-, Turnschuh-, DVD-, MP3- und anderen Raubkopie-Verkäufern.

Was also wäre so zum Lachen? Während ich von der mehr oder weniger sicheren Warte meines Stuhls aus dem schwarzen Treiben auf dem 60-er-Jahre Klofliessenboden hier im „Salon“ meiner neuen Wohnung in Ciudad de Guatemala zuschaue und aus Ekel wahrscheinlich auch den Rest dieser Nacht noch an genau diesem Fleck verbringen werde, hoffe ich, dass mir nicht noch mehr Kakerlaken von der Decke auf den Kopf und den Computerbildschirm fallen. Um zu duschen, hätte ich mindestens mit jedem Schritt in der Badewanne zehn von diesen Viechern zertreten, deshalb habe ich schließlich nach reiflicher Überlegung darauf verzichtet. Und für den Fall, dass mich diese Nacht doch noch ein Bedürfnis überfallen sollte – nach einer neuen Dose Bier oder Erleichterung – habe ich im Klo und in der Küche das Licht brennen lassen. Vielleicht hilft das, damit mir, wenn ich die Türe öffne, nicht wieder eine Armee von diesen Tieren in allen Größen entgegenrennt, -fliegt, - fällt.

Dabei hätte ich doch so gerne gesagt: Endlich wieder eine eigene Wohnung. Aber diese Wohnung ist leider ein Alptraum, wie ich gestehen muss. Mir ging erst nach einer Stunde putzen, als ich mich noch nicht wesentlich vorgearbeitet hatte, auf, dass mein Treiben überhaupt keinen Sinn hat. Gegen diesen Dreck, die Anzahl an Kakerlaken-Leichen und -Leibern komme ich mein Lebtag nicht an. Aber da war es leider schon zu spät, als dass ich mir für diesen Tag eine neue Bleibe hätte suchen können. Und das wirkliche Ausmaß ließ sich auch erst nach Einbruch der Dunkelheit erkennen, als die – ohnehin schon beträchtliche - Vorhut die eigentliche Armee aus den Spalten in der Asbestplatten-Decke und den Abflussrohren holte.

Dabei war ich wirklich überzeugt gewesen von meiner Wahl. Hatte mich bewusst für die Wohnung im schmuddeligen inhomogenen historischen Zentrum von Guatemala-Stadt entschieden und gegen „la Zona viva“, die Neustadt. Die bietet zwar moderne Hochhäuser, eine Unzahl an Bars und Restaurants, Super-Malls und bedeutend mehr Sicherheit, kommt mir aber wie eine Mischung aus Unterföhring und Gartenstadt Trudering vor, und die kann ich ja auch in München wieder haben.

Die Entscheidung hatte ich gestern Abend in Bar „Europa“, hier um die Ecke getroffen, genau in der selben Sekunde, in der sich das Indigena-Mädel im Geschäft gegenüber für den rosaroten Stoff entschied. Bar „Europa“ befindet sich im Erdgeschoss eines vielstöckigen Beton-Parkhauses, wird von dem außerordentlich netten und hilfsbereiten Guatemalteken Cesar betrieben, bietet Bratwürstel mit Kartoffelbrei und ähnelt auch sonst der Kaschemme, in der wir in Düsseldorf nach der Arbeit Skat zu kloppen pflegten. Wenn Andreas und Hubertus zur Tür hereingekommen wären, es hätte mich nicht gewundert. Nur die Indigenas draußen auf der Straße, die passten so gar nicht ins Bild.

Also, wenn Guatemala-Stadt jetzt hier wie ein Alptraum rüberkommt, das ist sie überhaupt nicht – trotz der vielen Horror-Erzählungen im Kopf, die mich auf meinem Flug von Quito hierher begleiteten. Der Empfang am vergangenen Sonntag war außerordentlich warm gewesen. Hatte nur meine Sachen in einem Hostal hier in der Altstadt abgelegt und war wie die Indigena-Familien zum Sonntagsvergnügen in den Parque Central geschlendert, habe mir dort an den Verkaufsständen für ein bisschen Geld den Magen mit Tacos, Tortillas und Horchata vollgeschlagen, ein bisschen den Wahrsagern, Heilsbringern, Halunken und Musikbands zugehört, zuletzt auch dem Pfarrer in der Kathedrale. Die Leute beobachtet und das sanfte Abendlicht, dass sich in den Wasserfontänen des Brunnens brach.

Der gleiche Kontinent, aber ein anderes Land. Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Auf den ersten Blick: Die Zeitungen sind hier im Gegensatz zu Nicaragua voller Werbung, was darauf schließen lässt, dass das Land weniger arm ist. Der öffentliche Verkehr besteht aber wie dort nur aus ausrangierten nordamerikanischen Schulbussen, die Abgaswolken in die Straßen pusten, die Quiteñer Luftverschmutzung wie unsichtbares, aber wohl duftendes Raumspray aussehen lassen. Was darauf schließen lässt, dass Eduador und vielleicht ganz Südamerika doch nicht ganz so arm ist wie Zentralamerika. Es gibt hier nicht wie in den anderen Ländern die Pulperías oder Licorerías, wo man spätnachts noch Zigaretten, Bier, Schokolade, Zahnpasta oder Brot kaufen kann. Stattdessen schließen all die kleinen Läden schon vor Einbruch der Dunkelheit, und aus Angst vor der Kriminalität flüchten sich dann sofort alle nach Hause. Die Männer sind hier noch zurückhaltender als in Ecuador (im Vergleich zu Nicaragua). Es gibt statt Reis auch Kartoffelbrei (nicht nur in Bar „Europa“). Ich habe ein neues Lieblingsgetränk, Horchata, das auf der Basis von Reis hergestellt wird. Ich weiß endlich wie Dulce de Leche schmeckt, von dem mir der Chilene Juan-Pablo schon seit Monaten vorschwärmt. Und schlussendlich gibt es in allen drei Ländern „Dragon“ zu kaufen, das ultimative Mittel gegen Flöhe – oder Kakerlaken. Aber in meinem Fall hilft nicht einmal das mehr, da hilft nicht einmal der Kammerjäger. Weshalb ich mich also morgen aufmache werde, eine neue Bleibe zu suchen.

Und nach einer festen und vor allem eigenen Bleibe ist mir inzwischen wieder, denn in Hostales habe ich schon einige Zeit in Nicaragua und auch die zwei Wochen über Weihnachten und Neujahr verbracht. Die ansonsten außerordentlich schön und entspannend waren. Zwei Tage vor dem 24. Dezember hatte ich kurzentschlossen ein Ticket nach Quito gekauft, das mir nach Managua fast so zivilisiert vorkam wie München (wie wird mir erst München vorkommen?).

Schon vor Monaten hatte mich Juan-Pablo eingeladen, Weihnachten im Haus seiner Schwester zu verbringen, die seit vielen Jahren mit einem Ecuadorianer verheiratet ist und mit ihm in Quito eine Metzgerei und eine Wurstfabrik betreibt. Gegen neun Uhr abends des 24. Dezember brachen Juan-Pablo, seine Freundin und ich in das Haus seiner Familie auf – reichlich früh, denn in Ecuador beginnt der Weihnachtsabend um Mitternacht mit dem Abendessen. Die Geschenke werden erst im Anschluss verteilt.

Dass ich mich am Flughafen von Managua beim Abflug mit Schweizer Schokolade und 18 Jahre altem Whiskey eingedeckt hatte sowie mit nicaraguanischem Kaffee, erwies sich als absoluter Pluspunkt. Juan-Pablos Eltern, die ich bereits im Okober kennen gelernt hatte, dankten es mir genauso wie das weitere chilenisch-ecuadorianische Ehepaar, das diesen Abend dort verbrachte – der ansonsten mit einer einzigen Flasche Wein doch ziemlich trocken ausgefallen wäre. Und so damit endete, dass die Eltern chilenische Volkstänze präsentierten.






Die anschließende Woche verbrachte ich mit Freunden an der ecuadoriansichen Küste in der Hängematte – das Nichtstun nur unterbrochen von der Happy Hour und den sporadischen Aufenthalten im Meer sowie der Silvesternacht. Zum Jahreswechsel tanzte ich mit meinen Badelatschen auf der Straße des Dorfes, das sich auch gut für einen Western eignen würde, bis in den frühen Morgen, so dass ich an jedem großen Zehe eine große Blase davontrug. Und bevor ich bei hellichtem Sonnenschein in mein spartanisches Zeltbett kroch, verleibte ich mir noch ein Frühstück aus Encebollado (Fischsuppe) ein. Dem ich mittags ein Viche de Pescado (Fischsuppe) und abends Camarones Encocados (Krabben in Kokossoße) folgen ließ.







Braungebrutzelt und gut ernährt kehrte ich zurück in die ecuadorianische Hauptstadt, wo ich noch ein paar Besuche absolvierte, etwas Kurzes für den vierten Geburtstag meines linken Zweiwochenblatts schrieb, den Cotopaxi bestieg (na ja, bis zu einer Höhe von 5000 Metern, also bis zum Beginn des Gletschers), bis ich schließlich vergangenen Samstagabend erneut einen feuchtfröhlichen Abschied zelebrierte und nach zweieinhalb Stunden Schlaf am Morgen in das Taxi stieg, auf dem Weg zum Flughafen eine ordentliche Abschieds-Attacke erlitt und schließlich hier landete, meiner letzten Station.









In der ich mich immer noch zu orientieren versuche, weshalb es also noch nichts Spannenderes als Kakerlaken-Geschichten zu schreiben gibt. Aber wenigstens eine richtige Kakerlaken-Geschichte sei mir erlaubt – da die Viecher in meiner Wohnung in Quito schlussendlich ja nie aufgetaucht sind. Am Ende habe ich ohnehin erfahren, dass die „Nachbarin“, die ich in einer Bar kennen gelernt und die mich eindringlich vor meiner Bleibe gewarnt hatte, gar nicht in meinem Haus wohnte, sondern im Block nebenan. So ist das Leben.


P.S. Inzwischen habe ich eine neue Wohnung. Billig. Ohne Lärm. Ohne Viecher. Ohne Sonne. Mit dem Charme einer Irrenanstalt aus dem letzten Jahrhundert. Und einer Verwalterin mit dem Aussehen einer englischen Gouvernante aus dem vorletzten Jahrhundert.