Freitag, 25. Februar 2005

Flores im Petén











Dienstag, 22. Februar 2005

Lago Atitlán










Montag, 21. Februar 2005

Nur mit Schutzengel

Also wenn ich das letzte Mal geschrieben habe, in meine Wohnung drängen manchmal Musikfetzen, dann ist das nur die halbe Wahrheit. Und weil Wasti nach seinem Kurzbesuch hier ohnehin einiges erzählen wird, macht es auch keinen Sinn, die andere Hälfte zu verschweigen. Gerade eben wieder, als ich die Zeitungen von heute durchblätterte, fielen draußen in der Nacht Schüsse. Guatemala ist mit Sicherheit das gefährlichste Land, in das ich je gereist bin, und die gemeine und die politische Kriminalität, zwischen denen nicht einmal eine Grenze auszumachen ist, verursachen mir jeden Tag mehr Gänsehaut.

Dazu tragen nicht nur die Bücher über die reichlich blutige Vergangenheit des Landes bei, die sich auf meinem Nachttisch stapeln, sondern auch meine Besuche bei Menschenrechtsorganisationen und anderen Institutionen. Dort erzählen mir die Menschen von Drohanrufen und ständiger Überwachung, sprechen von den immer noch existenten geheimen Killer- und Überfallkommandos, die wie in Bürgerkriegszeiten auf Befehl von oben agieren, und pflegen dann abzuschließen mit Sätzen wie: „Pass auf, vertrau keinem, es könnte ein Militär sein.“ Davor schützt mich ja hoffentlich, dass ich absolut unbedeutend bin. Allerdings frage ich mich jeden Tag mehr, wieso hier niemand wieder anfängt, sich zu bewaffnen. Was man so wiederum gar nicht formulieren kann, denn bewaffnet ist die Mehrheit bereits. Die AK47 ist absolute Durchschnittsausruestung.

Jeden Tag lese ich die Seite in den Zeitungen mit den übelsten Vergewaltigungen, Folterungen, Überfällen, Entführungen und Morden, derer so vieler sind, dass sie in der Regel in einem Sammelartikel jeweils nur mit einem Satz abgehandelt werden. Für eine Erklärung der Motive im Einzelfall ist da kein Platz mehr. Nur wenn eine Frau umgebracht wurde, vergessen die Redakteure nie die Gesamtzahl der weiblichen Opfer zu erwähnen: In den ersten Wochen des Jahres waren es bereits 55, was darauf schließen lässt, dass der traurige Rekord vom vergangenen Jahr heuer noch übertroffen wird. In einem besonders grauslichen Fall tauchte der abgeschnittene Frauenkopf in einem öffentlichen Bus auf. Hier um die Ecke.

Kommentare über die Unsicherheit im Land, in dem elf Millionen Menschen leben, füllen auch täglich die Meinungsspalten. Ich lese das alles nicht gerade zum Vergnügen, sondern um zu sehen, wo und zu welcher Uhrzeit die Verbrechen stattgefunden haben, um ein Gefühl zu kriegen für die Gegenden, wo ich genau aufpasse, wer vorne in den Bus einsteigt, oder wo ich besser erst gar keinen Fuß reinsetze.

Aber auch das hilft nicht immer. Als Wasti und ich vergangene Woche hier in der Hauptstadt kurz nach Dunkelwerden in ein Taxi einstiegen, nahm der Fahrer unnötigerweise eine unübliche Route. Sie führte durch üble Viertel. Am Straßenrand ließen sich zwischen nächtlichen Feuern Gruppen von Jugendlichen mit Pumpguns und allerhand andere unangenehme Gestalten ausmachen. Wir insistierten mehrmals, dass das der falsche Weg sei und landeten schlussendlich dann doch heil an meiner Haustür. Ob der Taxifahrer in böser Absicht oder aus Naivität handelte, wir werden es nie herausfinden.

Meine Haustüre ist gottseidank immer verschlossen, zur Kontrolle sitzt ein Portier am Eingang. Den Luxus genießen natürlich die wenigsten Guatemalteken, und deshalb leiden sie gerade unter einer neuen Welle von Gewalt durch jugendliche Banden-Mitglieder, so genannte mareros, die viele Viertel beherrschen und täglich Schutzzoll von Anwohnern und Busfahrern kassieren. Neuerdings klingeln sie an der Tür, schauen sich die Wohnung oder das Haus an und entscheiden dann, ob sie bleiben – für immer. Aus Angst traut sich kaum jemand zu protestieren oder gar Anzeige zu erstatten. Manchmal dürfen die Besitzer ein bisschen persönliche Habe (natürlich keine Wertgegenstände) zusammensuchen, bevor sie aus ihren vier Wänden rausgeschmissen werden, manchmal dürfen sie die Behausung sogar mit den ungebetenen Gästen teilen

Auch meine Gegend ist nicht gerade die sicherste. Aber dafür herrscht hier bis abends um acht Trubel, was wiederum auch Schutz ist. Zu dieser Uhrzeit ist nämlich der Rest der Stadt schon ausgestorben, bereiten sich die Obdachlosen in ruhigeren Ecken und Hauseingängen schon ihre Pappbetten. Mit Wasti traute ich mich nachts sogar bis zur Bodeguita del Centro, einer Musikkneipe vier Häuserblocks weiter, wo die Straße schlecht beleuchtet ist und abgesehen von den Prostituierten nachts immer leer zu sein scheint. Allein gehe ich allerdings nach acht zu Fuß nicht weiter als bis zum nächsten Häuserblock, wo in Bar Europa Chef Cesar immer rührend um mich bemüht ist. So habe ich also meinen Tagesablauf völlig umgestellt. In der Regel gehe ich tagsüber raus, nachts arbeite ich zu Hause am Computer.

Die vergangenen zwei Wochen waren da eine Ausnahme. Wasti und ich haben uns aber nicht nur in Hauptstadt umgeschaut, wir sind auch nach Antigua, an den Atitlan-See und zu den Maya-Ruinen nach Tikal gefahren. An diesen touristischen Punkten scheint die Welt halbwegs in Ordnung – aber die Gefahr lauert auch dort oder zumindest auf dem Weg dazwischen. Busüberfälle sind tägliche Routine, die können sogar hier in der Innenstadt zweieinhalb Stunden dauern, bis endlich die Polizei kommt. Die ist oft genug selbst in die Verbrechen involviert und deshalb nicht gerade vertrauenswürdig. Und dass es in den viel besuchten Touristenorten wie Antigua keine richtigen Maras gibt, zeigt am offensichtlichsten, dass diese Jugendbanden „von oben“ gesteuert werden. Die 14- bis 30-Jährigen werden von den Bossen, die das Land regieren, als Drogen- und Waffenkuriere beschäftigt. Von den Verbindungen zwischen Maras, Killer- und Überfallkommandos, Präsidentenpalast und anderen politischen und wirtschaftlichen Institutionen weiß jeder. Es ist sogar in der Zeitung nachzulesen. Es hilft nur nicht.

Man gewöhnt sich an vieles, habe ich festgestellt. Deshalb haengt neuerdings ein grosses Poster in meiner Wohnung: die uebelsten mareros als lustige Comicfiguren. Ansonsten vertraue ich auf meine Vorsichtsmaßnahmen und meinen Schutzengel.

Samstag, 12. Februar 2005

Gift für die Bauern

Wer nicht in San Francisco II wohnt, fährt dort auch nicht freiwillig hin. Der Weg in das kleine ecuadorianische Dorf am Rande des Amazonas an der Grenze zu Kolumbien wird in der Gegend Koka-Straße genannt und ist eine grobe, einsame, einspurige Schotterpiste aus faustgroßen Steinen und einer Aneinanderreihung von Schlaglöchern. Sie führt durch steiles hügeliges Waldgelände. Eine Straße, auf der man besser niemandem begegnet. Nicht nur, weil sich dort Schmuggler und Guerillakämpfer herumtreiben. Die größte Gefahr kommt dort aus der Luft.

„Hier sterben die Menschen, sie sterben einen langsamen Tod, und niemanden interessiert es“, klagen die Kichua-Bauern auf dem Dorfplatz in einer Mischung aus Verzweiflung und Wut. Alle zwei bis drei Wochen tauchen über der Gemeinde Flugzeuge auf, die Pflanzen, Tieren und Menschen Krankheit und Tod bringen. Die Gefahr droht entlang der kolumbianischen Grenze nicht nur in Ecuador, sondern auch in Peru und Brasilien.

Die Flugzeuge versprühen Unkrautvernichtungsmittel, Hauptbestandteil der Mischung ist Glifosat, ein toxischer Stoff. Es wird verkauft mit dem Hinweis, dass Menschen damit nicht in Berührung kommen sollen, es drohten Reizungen von Haut und Augen, Übelkeit und Atemnot. Doch im Drogenkrieg gelten andere Regeln. Der Giftcocktail soll auf kolumbianischem Terrain illegale Mohn-, Koka- und Marihuana-Anpflanzungen zerstören. Die Herbizide machen allerdings nicht an der Grenze Halt und landen auch direkt auf ecuadorianischem Gebiet.

Kolumbien versprüht im Kampf gegen den Drogenanbau schon seit den siebziger Jahren Herbizide aus der Luft, verstärkt haben sich die Einsätze allerdings erst im Jahr 2000, als der damalige US-Präsident Bill Clinton und sein kolumbianischer Kollege Andres Pastrana den umstrittenen Plan Colombia entwarfen. Aus dem südamerikanischen Land stammen 80 Prozent des weltweit hergestellten Kokains, und Washington glaubt, den Anbau mit militärischen Mitteln drosseln zu können. Dafür stellte der US-Kongress im selben Jahr 1,3 Milliarden Dollar bereit.

Der Plan läuft in diesem Jahr aus, aber bereits im vergangenen November sagte US-Präsident George W. Bush seinem kolumbianischen Kollegen Alvaro Uribe bei einem Kurzbesuch weitere Hilfe für die nächsten Jahre zu. Bush und Uribe hoffen, damit gleichzeitig linksgerichtete Guerillagruppen wie die Fuerzas Armadas Revolucionarias Columbianas (Farc) auszuschalten, die sich wie die rechten Paramilitärs hauptsächlich aus dem Kokaingeschäft finanzieren.

In San Fransisco II will man weder mit Guerillas noch mit Drogen etwas zu tun haben. Dort hat man andere Sorgen. Bei der Rundfahrt durch die Felder zeigt Delia Prieto auf die Bananenstauden. Vertrocknete Blätter, schwarze krumpelige Früchte. Sie zieht Maniok aus der Erde. Die Wurzel zerbröselt ihr in der Hand. „Mais, Kaffee, Maniok, Banane, alles tot“, sagt die Bäuerin. „Viele bauen hier überhaupt nichts mehr an, denn sie wissen ja nicht, wann die Flieger das nächste Mal auftauchen.“

Nicht nur die Pflanzen sterben, auch die Tiere. „Von meinen 15 Katzen blieb mir nicht eine“, erzählt Delia Prieto. Auch Hunde, Hühner, Schweine und Kühe starben. Was überlebt hat, lässt sich nicht verkaufen. So wurde den Bauern im Grenzstreifen durch die regelmäßigen Besprühungen aus der Luft die Lebensgrundlage entzogen. Aber das ist nicht alles. Die 52-jährige Bäuerin Victoria Ribadenaira zeigt auf die schwarzen Flecken auf ihrem Bauch, sie leidet unter Kopfschmerzen, Fieber und Erbrechen. Der Arzt diagnostizierte eine akute Vergiftung. Aber wer sollte den verordneten Blutaustausch bezahlen?

Bauer Julio Diez nimmt seinen Hut ab. Der Hinterkopf ist voll von daumengroßen Geschwüren. Kein Medikament hat geholfen. Jose Macario Bones Körper ist von Hautausschlägen übersät. Seine Frau behandelt sie mit Öl, das verschafft etwas Linderung. Segundo Rocendo Andrade holt das Foto seines Sohns aus der Hütte. Der Neunjährige starb im vergangenen Jahr innerhalb von drei Monaten. Allein in San Fransicso II starben in Folge der Herbizid-Besprühungen acht Kinder.

Was die Bauern erzählen, hat der spanische Arzt Alfredo Maldonado für die ecuadorianische Umweltinitiative Accion Ecologica und für Menschenrechtsgruppen wissenschaftlich untersucht. Sein Ergebnis: Während der Besprühungen leiden die Einwohner unter akuten Vergiftungserscheinungen. Langfristige Folgen sind eine zerstörte Erde und kontaminiertes Wasser, Magen-, Darm-, Nerven- und Hautkrankheiten, Abgänge in der Schwangerschaft, Zerstörung der roten Blutkörperchen, Krebs, Missbildungen, genetische Schäden.

Der Tropenmediziner hat die Ergebnisse seiner Untersuchungen in langen Berichten zusammengefasst. Er glaubt, wie viele im Land, hier gehe es vor allem um die Interessen der USA. Die Strategie zur Drogenbekämpfung sei aber längst gescheitert, sagt er. Auf Hilfe der Regierung brauchen die Bauern in San Fransisco II nicht zu hoffen.

Präsident Lucio Gutierrez ließ zwar eine Kommission zur Untersuchung der Gesundheitsschäden einrichten. Aber an deren Glaubwürdigkeit zweifeln sogar seine eigenen Abgeordneten, und im Zweifelsfall ist ihm der Applaus aus Washington oder Bogota wichtiger als seine Bauern. Auch Ecuador erhält immer wieder Brosamen aus dem Milliardenbudget der USA für den Plan Colombia, dafür patrouillieren einige tausend ecuadorianische Soldaten im Grenzstreifen zu Kolumbien.

Wer kann, geht deshalb weg von dort. In der Region wurden in den vergangenen Jahren 25 Schulen geschlossen. Eduardo Olmedo Aviles ist geblieben. Er hat keine Verwandten anderswo, die ihn aufnehmen könnten. Und er sieht nicht ein, warum er gehen sollte: „Ich bin schließlich Ecuadorianer. Ich habe ein Recht auf ein würdiges Leben in meinem Land.“

Dienstag, 8. Februar 2005

La Reina del Camino




Manchmal dringen untertags in meine verschrobene 50-er-Jahre-Wohnung Musikfetzen von draußen. Aber das ist nur ein leiser Abklatsch des Trubels auf der Straße. Wenn ich das Haus verlasse, bin ich mitten drin: dort wo die Stadt am lautesten, am chaotischsten ist.

Die sechste Avenida ist geäumt von mobilen Händlern mit schwarz kopierten CD, Videofilmen, DvD, Jeans und Schuhen, dort schlägt mir ein Lärm aus Techno-Musik, Reggaeton, Salsa und Kampffilm-Geräuschen entgegen, finden sich zwischen schwarzen Abgaswolken Grillstände und Straßen-Volksküchen, Zeitungsverkäufer und Zigarettenhändler. Auf dem zu einem schmalen Pfad zugestellten Gehsteig ist kein Durchkommen. Sieben Tage die Woche.

Eine Welt. Wenn ich den 82er Bus nehme, dann lande ich nach einer halben Stunde in der anderen, in zona 10 oder zona viva. Dort sammeln sich die modernen Bürotürme und Einkaufszentren mit europäischen und nordamerikansichen Modemarken, die teuren Hotels, Bars und Restaurants. Dort speisen selbst im McDonalds mittags nur Anzugträger mit Handy, tauchen Frauen in Tracht nur als Kaugummiverkäuferinnen auf, legen sich an der Kreuzung bei Rot kleine Jungs auf ihre ausgebreitete Jacke und zeigen in der Hoffnung auf ein paar Quetzales, das was wir im Turnunterricht die "Kerze" nannten. An den Laternenmasten kleben Handzettel von illegalen Abtreibungskliniken, jedes Haus ist durch Mauer und Stacheldraht und Sicherheitsleuten geschützt.

Noch irrealer aber ist die ehemalige Hauptstadt Antigua. Die kleine Provinzstadt liegt in lieblicher, manchmal fast toskanisch anmutender Landschaft, ist umgeben von ebenmäßigen, wie von Kinderhand gemalten Vulkankegeln. Die Straßen aus Kopfsteinpflaster sind gesäumt von Kolonialhäusern, hinter denen sich wunderbare Innenhöfe öffnen. Es finden sich ein paar jahrhundertealte Ruinen, die die Erdbeben dort hinterlassen haben. „Disneyland“ nannte es ein Einheimischer. Während ich in Guatemala-Stadt noch nicht einen Touristen gesehen habe, nicht einmal auf dem Hauptplatz oder in der Kathedrale, wimmelt es dort in Antigua nur so von Gruppen älterer Reisender und ausländischen Pärchen. Es gibt Pizza, Sushi, Thai, alles, nur keine Bohnen und keine Tortilla.


Nun gut, ich habe es natürlich genossen, mich zum Frühstück in die italienische Bar zu setzen und mit Blick auf die kolonialen Arkaden einen doppelten Espresso zu trinken. Alles andere wäre gelogen. Aber nach einer Nacht machte ich mich doch wieder auf den Heimweg.


Der Bus war ausnahmensweise nicht voll besetzt, das heißt man konnte noch manche Körperteile bewegen, und deshalb rutschte auf der rasanten Fahrt der jeweils Dritte auf der zweisitzigen Bank bei jeder Kurve in den Mittelgang. Auch die alte Frau neben mir plumpste regelmäßig ins Nichts und lachte dann schallend – wie alle anderen, die keinen Halt gefunden hatten.

Das Busfahren ist nicht immer so lustig, es ist vor allem anstrengend. Zum einen gibt es keinen ordentlichen Busbahnhof hier in der Hauptstadt, nur ein paar Straßenzüge, die sich so nennen. Dann ist der älteste Klapperkasten der „Reina del Camino“, einer wirklich üblen Bus-Kooperative in Quito, mit der ich einige nächtliche Horrorfahrten erlebte, im Vergleich immer noch ein Luxusgefährt. Und schließlich kann man sich nicht aussuchen, ob man seinen Sitz mit jemandem teilen möchte. Wenn zwei auf der Bank nicht Platz machen wollen für einen Dritten, dann wird der Kassierer ziemlich schnell ziemlich ungeduldig. Von den Leuten, die stehen, von den Kindern, die irgendwo ein Plätzchen finden, vom Gepäck, davon will ich gar nicht sprechen. Strecken über mehrere Stunden legt man hier zurück wie in der Münchner S-Bahn zu Stoßzeiten, wenn gerade zwei Züge ausgefallen sind.


Bei meinem jüngsten Ausflug hatte ich Glück. Ich ergatterte einen Fensterplatz. Neben mich setzte sich eine Mutter. Sie hatte abgearbeitete, geschwollene, runzlige Hände, aber glatte rote Pausbäckchen. Ich hätte sie auf mein Alter geschätzt, damit dürfte sie etwa fünf bis zehn Jahre jünger gewesen sein. Auf ihrem Schoss saß der Kleinste mit einem halben Jahr, dem sie hin und wieder die Brust gab. Auf das bisschen Bank, das noch frei war, hatte sich der Ehemann gequetscht, mit der Zweijährigen auf den Knien. Jenseits des Gangs hielten die Zehn- und der Achtjährige die zwei mittleren Geschwistern auf dem Schoss. Am Fenster schließlich saß ein Fremder. Diese achtköpfige Familie fuhr also nicht nur mit dem Bus zu einem Fest in ihr Heimatdorf, nein, sie tat das auf zweimal anderthalb Sitzplätzen. Während die Familie noch ein Stück Weg vor sich hatte, stieg ich nach vier Stunden in Chichicastenango aus.


Das Dorf im Departamento del Quiché mit 5000 Einwohnern ist berühmt für seinen Markt und als Zentrum der Maya-Religion. Der Hauptplatz und die angrenzenden Straßen verwandelten sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag in einen überdeckten Basar voller Trachtenstoffe, Huipiles, den bestickten Blusen der Indígenas, Touristen-Kram, Plastikeimern, Obst, Gemüse, Mais in allen Formen. Aber trotz dieses Gewimmels beherrschte immer noch die Kirche San Tomas den Platz. Auf den Steinstufen hinauf zum Eingang brannten in kleinen Feuern duftende Essenzen. Innen war es duster, spartanisch, rauchig. Alte Frauen rutschten murmelnd und auf Knien zum Altar und schwenkten dabei Weihrauchkessel.


San Tomas mag zwar eine katholische Kirche sein, so wie die Mehrheit der Bevölkerung katholisch sein mag. Aber in dieser Gegend mischt sich der Katholizismus in besonderer Weise mit den Riten der Mayas. Die Kirche wurde 1540 auf dem Platz eines Maya-Altars erbaut. Dort war es auch, dass ein spanischer Pfarrer den Popol Vuh „entdeckte“, ein Kompendium der Welt- und Lebensanschauung der Quichés, einer Untergruppe der Mayas. Die Schamanen arbeiten in der Kirche San Tomas genauso wie auf dem Friedhof oder auf dem Hügel Pascual Abaj außerhalb des Dorfs.

Am Sonntag standen Sonne und Mond gerade günstig, was etwa zweimal im Monat der Fall ist, und einige der 300 Shamanen des Ortes zelebrierten dort oben Bittriten, an einem 2000 Jahre alten Steinschrein auf einer Lichtung in einem Pinienwald. Sie rauchten dicke Zigarren, um sich zu reinigen, ordneten die Gegenstände, die sie je nach Auftraggeber für ihre Zeremonie brauchten, entzündeten kleine Feuer, in die sie Kerzen und Blumen warfen, die sie mit Essenzen mischten und mit Alkohol besprengten. Lebende Hühner wurden an diesem Tag nicht geopfert, aber es ist üblich. Die Shamanen, die Jeans und T-Shirt oder Anzug trugen, baten in ihrer Sprache murmelnd um Gesundheit, Liebe, Erfolg...


Das hätte ich vielleicht auch alles ganz gut gebrauchen können, aber eine junge Frau aus Chichi meinte, dass der Zauber nichts helfe. Sie hatte extra einen Shamanen engagiert, um einen ordentlichen Ehemann abzukriegen. Nach der Heirat entpuppte sich dieser als Säufer. Na danke. Ich hoffe, für mich gibt es da immer noch andere Wege.