Dienstag, 8. Februar 2005

La Reina del Camino




Manchmal dringen untertags in meine verschrobene 50-er-Jahre-Wohnung Musikfetzen von draußen. Aber das ist nur ein leiser Abklatsch des Trubels auf der Straße. Wenn ich das Haus verlasse, bin ich mitten drin: dort wo die Stadt am lautesten, am chaotischsten ist.

Die sechste Avenida ist geäumt von mobilen Händlern mit schwarz kopierten CD, Videofilmen, DvD, Jeans und Schuhen, dort schlägt mir ein Lärm aus Techno-Musik, Reggaeton, Salsa und Kampffilm-Geräuschen entgegen, finden sich zwischen schwarzen Abgaswolken Grillstände und Straßen-Volksküchen, Zeitungsverkäufer und Zigarettenhändler. Auf dem zu einem schmalen Pfad zugestellten Gehsteig ist kein Durchkommen. Sieben Tage die Woche.

Eine Welt. Wenn ich den 82er Bus nehme, dann lande ich nach einer halben Stunde in der anderen, in zona 10 oder zona viva. Dort sammeln sich die modernen Bürotürme und Einkaufszentren mit europäischen und nordamerikansichen Modemarken, die teuren Hotels, Bars und Restaurants. Dort speisen selbst im McDonalds mittags nur Anzugträger mit Handy, tauchen Frauen in Tracht nur als Kaugummiverkäuferinnen auf, legen sich an der Kreuzung bei Rot kleine Jungs auf ihre ausgebreitete Jacke und zeigen in der Hoffnung auf ein paar Quetzales, das was wir im Turnunterricht die "Kerze" nannten. An den Laternenmasten kleben Handzettel von illegalen Abtreibungskliniken, jedes Haus ist durch Mauer und Stacheldraht und Sicherheitsleuten geschützt.

Noch irrealer aber ist die ehemalige Hauptstadt Antigua. Die kleine Provinzstadt liegt in lieblicher, manchmal fast toskanisch anmutender Landschaft, ist umgeben von ebenmäßigen, wie von Kinderhand gemalten Vulkankegeln. Die Straßen aus Kopfsteinpflaster sind gesäumt von Kolonialhäusern, hinter denen sich wunderbare Innenhöfe öffnen. Es finden sich ein paar jahrhundertealte Ruinen, die die Erdbeben dort hinterlassen haben. „Disneyland“ nannte es ein Einheimischer. Während ich in Guatemala-Stadt noch nicht einen Touristen gesehen habe, nicht einmal auf dem Hauptplatz oder in der Kathedrale, wimmelt es dort in Antigua nur so von Gruppen älterer Reisender und ausländischen Pärchen. Es gibt Pizza, Sushi, Thai, alles, nur keine Bohnen und keine Tortilla.


Nun gut, ich habe es natürlich genossen, mich zum Frühstück in die italienische Bar zu setzen und mit Blick auf die kolonialen Arkaden einen doppelten Espresso zu trinken. Alles andere wäre gelogen. Aber nach einer Nacht machte ich mich doch wieder auf den Heimweg.


Der Bus war ausnahmensweise nicht voll besetzt, das heißt man konnte noch manche Körperteile bewegen, und deshalb rutschte auf der rasanten Fahrt der jeweils Dritte auf der zweisitzigen Bank bei jeder Kurve in den Mittelgang. Auch die alte Frau neben mir plumpste regelmäßig ins Nichts und lachte dann schallend – wie alle anderen, die keinen Halt gefunden hatten.

Das Busfahren ist nicht immer so lustig, es ist vor allem anstrengend. Zum einen gibt es keinen ordentlichen Busbahnhof hier in der Hauptstadt, nur ein paar Straßenzüge, die sich so nennen. Dann ist der älteste Klapperkasten der „Reina del Camino“, einer wirklich üblen Bus-Kooperative in Quito, mit der ich einige nächtliche Horrorfahrten erlebte, im Vergleich immer noch ein Luxusgefährt. Und schließlich kann man sich nicht aussuchen, ob man seinen Sitz mit jemandem teilen möchte. Wenn zwei auf der Bank nicht Platz machen wollen für einen Dritten, dann wird der Kassierer ziemlich schnell ziemlich ungeduldig. Von den Leuten, die stehen, von den Kindern, die irgendwo ein Plätzchen finden, vom Gepäck, davon will ich gar nicht sprechen. Strecken über mehrere Stunden legt man hier zurück wie in der Münchner S-Bahn zu Stoßzeiten, wenn gerade zwei Züge ausgefallen sind.


Bei meinem jüngsten Ausflug hatte ich Glück. Ich ergatterte einen Fensterplatz. Neben mich setzte sich eine Mutter. Sie hatte abgearbeitete, geschwollene, runzlige Hände, aber glatte rote Pausbäckchen. Ich hätte sie auf mein Alter geschätzt, damit dürfte sie etwa fünf bis zehn Jahre jünger gewesen sein. Auf ihrem Schoss saß der Kleinste mit einem halben Jahr, dem sie hin und wieder die Brust gab. Auf das bisschen Bank, das noch frei war, hatte sich der Ehemann gequetscht, mit der Zweijährigen auf den Knien. Jenseits des Gangs hielten die Zehn- und der Achtjährige die zwei mittleren Geschwistern auf dem Schoss. Am Fenster schließlich saß ein Fremder. Diese achtköpfige Familie fuhr also nicht nur mit dem Bus zu einem Fest in ihr Heimatdorf, nein, sie tat das auf zweimal anderthalb Sitzplätzen. Während die Familie noch ein Stück Weg vor sich hatte, stieg ich nach vier Stunden in Chichicastenango aus.


Das Dorf im Departamento del Quiché mit 5000 Einwohnern ist berühmt für seinen Markt und als Zentrum der Maya-Religion. Der Hauptplatz und die angrenzenden Straßen verwandelten sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag in einen überdeckten Basar voller Trachtenstoffe, Huipiles, den bestickten Blusen der Indígenas, Touristen-Kram, Plastikeimern, Obst, Gemüse, Mais in allen Formen. Aber trotz dieses Gewimmels beherrschte immer noch die Kirche San Tomas den Platz. Auf den Steinstufen hinauf zum Eingang brannten in kleinen Feuern duftende Essenzen. Innen war es duster, spartanisch, rauchig. Alte Frauen rutschten murmelnd und auf Knien zum Altar und schwenkten dabei Weihrauchkessel.


San Tomas mag zwar eine katholische Kirche sein, so wie die Mehrheit der Bevölkerung katholisch sein mag. Aber in dieser Gegend mischt sich der Katholizismus in besonderer Weise mit den Riten der Mayas. Die Kirche wurde 1540 auf dem Platz eines Maya-Altars erbaut. Dort war es auch, dass ein spanischer Pfarrer den Popol Vuh „entdeckte“, ein Kompendium der Welt- und Lebensanschauung der Quichés, einer Untergruppe der Mayas. Die Schamanen arbeiten in der Kirche San Tomas genauso wie auf dem Friedhof oder auf dem Hügel Pascual Abaj außerhalb des Dorfs.

Am Sonntag standen Sonne und Mond gerade günstig, was etwa zweimal im Monat der Fall ist, und einige der 300 Shamanen des Ortes zelebrierten dort oben Bittriten, an einem 2000 Jahre alten Steinschrein auf einer Lichtung in einem Pinienwald. Sie rauchten dicke Zigarren, um sich zu reinigen, ordneten die Gegenstände, die sie je nach Auftraggeber für ihre Zeremonie brauchten, entzündeten kleine Feuer, in die sie Kerzen und Blumen warfen, die sie mit Essenzen mischten und mit Alkohol besprengten. Lebende Hühner wurden an diesem Tag nicht geopfert, aber es ist üblich. Die Shamanen, die Jeans und T-Shirt oder Anzug trugen, baten in ihrer Sprache murmelnd um Gesundheit, Liebe, Erfolg...


Das hätte ich vielleicht auch alles ganz gut gebrauchen können, aber eine junge Frau aus Chichi meinte, dass der Zauber nichts helfe. Sie hatte extra einen Shamanen engagiert, um einen ordentlichen Ehemann abzukriegen. Nach der Heirat entpuppte sich dieser als Säufer. Na danke. Ich hoffe, für mich gibt es da immer noch andere Wege.

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