Donnerstag, 28. Oktober 2004

No Man´s Land







Die Wirklichkeit ist immer anders, als man sie sich vorgestellt hat. Das hat nicht nur die Reise nach Peru gezeigt, das habe ich auch auf meiner jüngsten Reise wieder festgestellt. Lago Agrio oder Nueva Loja, wie die Stadt im Norden des Landes auch heißt, gilt als gefährlichster Ort in ganz Ecuador. Bis vor 20 Jahren soll es im Umfeld nur dichten unberührten Urwald gegeben haben. Nach Entdeckung der ersten Erdölvorkommen setzte dann ein Boom ein, in dessen Verlauf sich dort Arbeiter des Texaco-Konzerns, Straßenbautrupps, Jäger, Glücksritter, Holzfäller, Soldaten, Prostiutierte und entwurzelte Indígenas ansiedelten. Die Nähe zur kolumbianischen Grenze zieht heute außerdem Waffen- und Drogenschmuggler, Flüchtlinge und versprengte Guerilla-Kämpfer an. „Von abendlichen Spaziergängen abseits der Hauptstraße wird dringend abgeraten“, heißt es in meinem Führer. Tatsächlich aber stieg ich nach einer Nacht im Bus in einem Ort aus, der außer einer schwülen Hitze einfach nur pralles Leben zu bieten scheint und deshalb trotz seiner staubigen, ungeteerten Straßen, Holzbaracken, unfertigen Betonhäuser und verwegenen Gestalten außerordentlich sympatisch wirkte.


Erstes Ziel nach einer Dusche in einem billigen Hotel und einem Frühstück war das Büro der Föderation der Bauern-Organisationen der Region Sucúmbios. Präsident Daniel Alarcon, ein Schwarzer aus der Küstenstadt Esmeraldas, hatte ich vorher schon in Quito getroffen, und mit seiner Hilfe machten Tancredi, Linda und ich noch am selben Tag eine achtstündige Rundfahrt durch den Grenzstreifen, um uns mit eigenen Augen die Folgen des Plan Colombia anzuschauen, für den die USA jährlich 860 Millionen Dollar ausgeben. Offiziell unterstützen sie damit Kolumbien im Anti-Drogen-Kampf, tatsächlicher Hintergrund aber ist der Kampf gegen die FARC, die linke Guerilla Kolumbiens. Im Rahmen dieses Planes besprühen die Nordamerikaner aus der Luft Coca-Felder mit Glifosat. Dieser Giftstoff macht aber natürlich nicht an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze Halt. Die Folgen: Frühgeburten, Missbildungen, Erkrankungen von Haut und Nervensystem, tote Viecher, kontaminiertes Wasser und eine Erde, auf der nichts mehr wächst, weder Banane noch Maniok noch Kaffee. Männer zeigen die Geschwüre auf ihrem Hinterkopf, Frauen weinen um tote Kinder, und wer kann, verlässt die Gegend. Wie es auf der kolumbianischen Seite aussieht, kann ich mir jetzt lebhaft vorstellen.


Zu Beginn zogen Sarah, eine der Angstellten der Bauern-Föderation, und ich erst einmal los, um einen Pick-up zu mieten. Der Taxifahrer schaute uns zweifelnd an und sagte lakonisch: „Na, dann hoffe ich, dass sie mich nicht entführen.“ Als ihm Daniel Alarcon dann im Büro die genaue Route erklärte, brauchte der Mann noch einmal einige Minuten, bis er sich endlich dazu durchrang, mit uns 50 Dollar zu verdienen. So ging es über Schotterstraßen, Wellblechpisten und Forstwege von Dorf zu Dorf. Letzte Station der Rundfahrt war der Ort San Francisco II, 500 Meter von der Grenze entfernt. An einer Militärsperre einige Kilometer vorher kontrollierte ein Soldat unsere Ausweise, fragte nach dem Ziel und sagte zum Abschied nur: „Vorsicht!“ Das war das Stichwort, um den Taxifahrer noch nervöser zu machen. „Das hier ist die Coca-Straße“, sagte er. Einer der Grenzwege für die Drogenschmuggler. Er schaute sich ständig um, der Weg aus faustgroßen Steinen und einer Aneinanderreihung von Schlaglöchern erlaubte nur noch Schrittgeschwindigkeit. Nach einigen Kurven im dichten Wald tauchte eine Frau aus einem Pfad auf, hob warnend den Finger. Kurz darauf brannten rechts und links kleine Feuer am Wegesrand – und da waren plötzlich in der nächsten Kurve zwei Männer zu erkennen. Der Taxifahrer erlitt eine Schweißattacke und überlegte sichtbar, ob er nicht doch besser den Rückwärtsgang einlegen sollte. Allerdings ganz ohne Grund. Wir passierten die beiden Bauern ohne Zwischenfälle. In der Dämmerung und nach zwei Dutzend Interviews kehrten wir wieder heil nach Lago Agrio zurück, wo wir uns ein üppiges Abendessen gönnten, hinterher durch die Hauptstraße schlenderten und dabei Volksküchen, Alkoholausschanke, Prostiuierte und Soldatenposten passierten und uns mit reichlich Schokolade für den Nachtisch eindeckten.


Anderntags tuckerten wir im Bus drei Stunden in Richtung Süden nach Coca, das, als Missionsvorposten gegründet, auch Francisco de Orellana heißt. „Lust auf schmutziges Wildwest-Ambiente, schlammige Avenidas, platt gefahrene Müllhaufen und allerorts tropisch brütende Fäulnis? Verrückt nach aufgewirbelten Staubwolken und einem mit Rohölresten bespritzen T-Shirt, das unter einer hermetischen Hitzeglocke wie ein Neopren-Anzug am Oberkörper festklebt? Ganz wild auf grimmig dreinblickende Militärs mit Spiegelglassonnenbrillen in starren Gesichtern, schuftige Trunkenbolde, dickbäuchige Petroleros, jähzornige Stechmücken und leidgeprüfte, aus morschen Bordellbaracken entsprungene Straßenkinder? In diesem Fall ist der am unteren Río Napo gelegene Flusshafen mit dem heiklen Namen genau das Richtige.“ So schreibt mein Führer. Aber wiederum: Was ich vorfand, war ein sympathisches kleines Provinznest.


In Coca hatte ich einen Termin im Büro von Luis Yanza von der Front zur Verteidigung des Amazonas-Gebiets vereinbart. Die Organisation vertritt die Interessen derer, die unter den Folgen der Erdölförderung durch Texaco leiden und gegen den Konzern klagen. Yanza organisierte mir nach einem Gespräch einen Taxifahrer für den anderen Tag. Anschließend tranken Tancredi, Linda und ich noch ein gemeinsames Bier, bevor die zwei bereits wieder in den Bus nach Quito stiegen und mich alleine zurückließen. Nach einem Abendessen schlenderte ich in mein viertklassiges Hostal am Flussufer, trank auf der Terrasse mit Blick auf den Río Napo mein auf dem Heimweg gekauftes Bier und legte mich schließlich schlafen – mit dem Geräusch eines summenden Ventilators im Ohr und dem Blick auf eine vertrocknete Kakerlake auf dem Fliesenboden. Anderntags beim Frühstück in der Stadt stürmte ein Trupp Erdölarbeiter das Lokal und ich sah mich plötzlich in Begleitung dreier Indígenas am Tisch, die Eier im Glas, Semmeln mit Marmelade und Käse aßen, eine Tasse Milch schlürften und sich hinterher noch Reis und Banane mit Ragout schmecken ließen. Frühstück „completo“, wie es auf der Speisekarte heißt. In Lago Agrio nannte man es Frühstück „petrolero“.


Jorge, der Taxifahrer, entpuppte sich als gemütlicher, kugelrunder, grauenhaft nuschelnder, aber kundiger Führer durch das ehemalige Fördergebiet von Texaco im Amazonasgebiet. Auf der siebenstündigen Rundfahrt sah ich alles an Verseuchung, was zu sehen ist: Bäche, die nichts anderes sind als 40 Zentimeter Rohöl, Erdölbrunnen, offene Öl-Becken, Anlagen zum Abfackeln der Gase... Ich sprach mit Bauern, deren Rinder verrecken, denen nur kontaminiertes Trinkwasser bleibt und die unter diversen Krankheiten, dem Lärm der Anlagen und allerhand anderem leiden. Wer kann, verlässt auch diese Gegend.


Das wollte ich eigentlich auch tun nach meiner Rundfahrt, aber Jorge lud mich zu sich nach Hause ein, wo uns seine Señora ein ordentliches Essen auftischte – na ja, er hatte auch einen ordentlichen Preis für die Rundfahrt verlangt. Nachdem der Taxifahrer wieder zum Arbeiten verschwunden war, wechselten seine Frau und ich auf die Hängematten der Betonterasse im ersten Stock des Hauses und plauderten drei Stunden angeregt. Sie erzählte unter anderem von dem Indianerstamm, der heute noch nackt im Urwald rumrennt und von dem niemand etwas weiß, weil er jeden umbringt, der sich auch nur ein bisschen nähert. Die zwei Missionare, die 1987 zur Kontaktaufnahme in den Dschungel aufgebrochen waren und dort ermordert wurden, stammten aus Coca. Mit Berichten über die Lanzenstiche in den Leichen, das ihnen gewidmeten Museum, Rotfuß- und Gelbfußindianer und die Bürgermeisterin, die am vergangenen Sonntag zur Provinzpräfektin gewählt wurde, verging die Zeit bis zur Abfahrt meines Busses wie im Flug.

Im Bus schließlich kam ich ausgerechnet neben dem Dorfsekretär eines Ortes zu sitzen, der in einem Biosphärenreservat liegt und gegen die dort im Januar beginnende Erölförderung durch ein chinesisches Unternehmen kämpft. Ein Steinchen mehr in meiner Recherche. Und als der Dorfsekretär ausstieg und sich ein junger Soldat neben mir niederließ, war ich schon so müde, dass ich gar nicht mehr reagierte, als sich dieser im Laufe der elfstündigen Fahrt mehr und mehr an mich hinkuschelte. Ich schlief tief und fest. Trotzdem kam ich im Morgengrauen reichlich erschöpft in Quito an.

Es war voraussichtlich erst einmal meine letzte Reise in diesem Land. Am Mittwochmorgen fliege ich via Panaman nach Nicaragua, um für eine deutsche Stiftung eine kleine Studie in spanischer Sprache über die dortige Presselandschaft anzufertigen. Abgabetermin 20. Dezember. Zum letzten Mal also ganz viele herzliche Grüße aus Ecuador.

Freitag, 22. Oktober 2004

No más violencia contra las mujeres!




Seit ich im Büro von Amnistía arbeite, versuchen die Voluntarios die neue Kampagne „Stoppt Gewalt gegen Frauen“ mit Inhalt zu füllen. Das geht sehr langsam voran, Trost ist uns nur, dass die Kampagne bis zum Jahr 2010 dauern soll und also ein bisschen Zeit ist. Nun mag der eine oder andere in Deutschland über so eine Kampagne lachen. Ich lade ihn gerne nach Ecuador ein, da würde ihm das Lachen schier vergehen. Schon seit Monaten schleiche ich um dieses Thema herum und fand dann aber, ich sei vielleicht ein bisschen ungerecht und sollte noch etwas warten mit meiner Beschreibung. Nun ist es allerdings so, dass mein Urteil inzwischen höchstens noch härter ausfällt. In Lateinamerika regiert der Machismo, und wer etwa ein romantisch verklärtes Bild davon im Kopf hat, dem seien hier ein paar Beispiele an die Hand gegeben.

Fangen wir mal mit der Romanfigur des Journalisten und Psychoanalytikers José an, die hat nämlich ein lebendes Vorbild. Die Frau ist heute fast 60 Jahre alt, und davon hat sie 40 in einer Irrenanstalt verbracht. Als illegitime Tochter eines Politikers störte sie im Vorwahlkampf dessen Bemühungen um einen Posten und wurde abgeschoben. Vorwand war ein tätlicher Angriff auf einen Mann, tatsächlicher Hintergrund dieses Angriffs war sexueller Missbrauch. José zufolge ist die Frau einwandfrei gesund, wenn auch inzwischen medikamentenabhängig. Dass sie nach einer Entlassung wieder eingeliefert wurde, liegt daran, dass Familienmitglieder die Ärzte bestochen haben und das immer noch monatlich tun. Ich will aber gar nicht in die Details einsteigen, sondern bevor ich andere, weniger romanhafte Schicksale schildere, ein paar Zahlen bringen. Laut ecuadorianischer Regierung (!!) gibt es in 82 Prozent der Familien in diesem Land ein Gewaltproblem. Acht von zehn Frauen wurden zumindest einmal schon mit körperlicher oder sexueller Gewalt konfrontiert.

So kommt jedes Gespräch mit einer Frau früher oder später an einen Punkt, an dem sich mir die Haare aufstellen. Eine kleine Auswahl:

Unsere Sekretärin Anita, die jeden Abend um sechs verschwindet, um noch vier Stunden an der Abenduniversität zu studieren und dann spät nachts Hausaufgaben zu machen, arbeitet seit anderthalb Jahren bei Aministía. Vorher suchte sie mehr als ein Jahr lang in Quito nach einem Job. Der Grund, warum sie so lange nichts fand: Einstellungsvoraussetzung ist in aller Regel Sex mit dem Chef. Wenn er den nicht freiwillig kriegt, holt er ihn sich gerne auch mal gewaltsam. In einem Fall entging Anita einer Vergewaltigung nur, weil sie rechtzeitig einen Brieföffner zu fassen bekam, mit dem sie dem Mann das Hemd aufschlitzte. „Diese Erlebnisse muss ich mir immer vor Augen halten, wenn es hier in der Arbeit Probleme gibt“, sagt Anita. Unser Geschäftsführer Marco stellt zwar keine derartigen Forderungen, aber er behandelt sie ansonsten nicht eben zimperlich. Anzeige hat Anita nie gestellt. „Er war ein reicher Anwalt, da habe ich keine Chance“, sagt sie. Mit dem nötigen Kleingeld lässt sich hier alles regeln.


Spanischlehrerin Elisa ist Anfang 30, hat den Umfang einer Tonne und ist ein lebenslustiger Mensch. Ihren neunjährigen Sohn zieht sie mit Hilfe ihrer Mutter auf. Der Vater des Kindes hat sich während der Schwangerschaft abgesetzt. Ihre Schwester wurde von ihrem Ehemann jahrelang grün und blau und krankenhausreif geschlagen. Kürzlich ließ er sich taufen, seither beherrscht er sich.

Spanischlehrerin Rocía ist im selben Alter, hat ebenfalls einen kleinen Sohn und im Moment auch noch einen Mann. „Aber wie lange noch?“, fragt sie. Das Problem: Sie kann keine Kinder mehr kriegen. Weil nun aber der Herzenswunsch eines jeden lateinamerikanischen Mannes eine große Schar Kinder ist, wie sie sagt, und sie weiß, dass ihr Mann diese früher oder später mit einer anderen zeugen wird, hat sie ihn freigegeben. „Du kannst gehen, damit Du glücklich wirst.“ Früher oder später wird er das tun.

Spanischlehrerin Rosita könnte man fast schon als Feministin bezeichnen: Ihr Mann muss samstags beim Wäschewaschen helfen (Maschine haben hier nicht viele Leute) und auch mal auf die Kinder aufpassen. Seine Familie sieht das nicht nur nicht gerne, sondern versucht aktiv, diesen Ausbruch aus der klassischen Rollenverteilung zu hintertreiben. Aus erster Ehe hat die 35-Jährige einen Sohn, den der Vater nach Spanien entführt hat. Sie hat den inzwischen elfjährigen Buben seit drei Jahren nicht mehr gesehen.


Spanischlehrerin Irene ist ein Ausbund an Geschichten, und wenn nur die Hälfte von dem wahr ist, was sie erzählt, ist es immer noch zuviel für ein Leben von 37 Jahren. Irene ist bereits Großmutter und lebt zurzeit mit ihrer Mutter, ihrer eigenen Großmutter, ihrem 16-jährigen Sohn und ihrem Mann sowie mit ihrer 19-jährigen Tochter, deren Sohn und deren derzeitigen Lebensgefährten in einer Wohnung, die - nach ihren Erzählungen zu schließen - nicht viel größer sein kann als meine. Dort rumpelt es täglich. Einer der Punkte: Ihr „Schwiegersohn“ prügelt das Kind täglich. Als sie das am Anfang verhindern wollte, ging er auf sie los. Seither mischt sie sich nicht mehr ein. Ihre Tochter hat bereits zwei Abtreibungen hinter sich. Alle drei Schwangerschaften sind von unterschiedlichen Männern. Ihr Sexualleben begann mit einer Vergewaltigung.


Irene selbst heiratete mit 15 einen erheblich älteren Mann, der sie in kurzer Zeit fünfmal schwängerte, ansonsten jede Nacht herumzog und sie anschließend ganz verließ. Nur zwei der Kinder leben heute noch. Mit 21 rappelte sie sich auf, ging wieder zur Schule und anschließend auf die Uni und lernte das, was sie heute ist und kann. Sie hat eine ganze Serie von Geschichten über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und an anderen Orten auf Lager.

Wenn sich der Machismo in weniger heftiger Form präsentiert, dann sagt ein grundhässlicher Man nach kurzem Gespräch und in vollkommener Missachtung der Realität der Frau ungeniert ins Gesicht: „Te impacté mucho!“ Wobei die direkte Übersetzung mit „Ich habe Dich stark beeindruckt!“ wohl nicht ganz den eigentlichen Sinn erfasst. Nicht lachen, mir ist exakt das passiert.

Nun ist es aber falsch zu glauben die Schuld trügen nur die Männer. Nein, viele Frauen empfinden dieses Verhalten als normal. Und wer das nicht glauben will, dem sei noch zum Abschluss ein Sprichwort mitgegeben, das relativ häufig zitiert wird: „Aunque pegue, aunque mate, mi marido es.“ Auf Deutsch: Auch wenn er mich schlägt und selbst wenn er mich tötet, er ist mein Ehemann. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, was passiert, wenn jemand auf der Straße einer Frau helfen will, die von ihrem Ehemann misshandelt wird: Die Frau lehnt die Hilfe ab, und wenn sie das freundlich tut, hat der Helfende noch Glück.

Ihr seht also: Die Kampagne von Amnistía ist wirklich nötig. Aber ob sie helfen wird, die Realität zu ändern, das ist wiederum eine andere Frage.

Mittwoch, 13. Oktober 2004

Cachai?

Auch wenn sich meine Kondition im Ausgehen und Trinken im vergangenen halben Jahr beträchtlich erhöht hat, auch wenn ich inzwischen drei Tage in Folge mit weniger als einer Handvoll Stunden Schlaf auskomme und auch wenn es inzwischen einige Menschen schwören, dass einer meiner Vorfahren ein Latino gewesen sei – ich selbst habe hier zum ersten Mal festgestellt, WIE deutsch ich bin, und es gibt genügend Momente, in denen ich mich geschlagen geben muss.

So etwa Samstagmorgen um sechs, als ich mich in der Wohnung von José mitsamt meiner Klamotten auf eine Strohmatte legte und ziemlich prompt und selig in den Schlaf glitt. Mein früher Abgang nach nur zwölf Stunden Feiern, Quatschen und Trinken, den ich immerhin damit rechtfertigen konnte, dass ich bereits in der Vornacht über die Stränge geschlagen hatte, wurde mit Enttäuschung quittiert.

Aber ich will gar nicht von mir erzählen, sondern erst einmal von José. Grund seiner Einladung war der Todestag von Che. Anlass früherer Einladungen war unter anderem etwa der 40. Geburtstag der kommunistischen Partei Ecuadors gewesen. Daran lässt sich schon erkennen, auf welcher Seite das Herz des 37-Jährigen schlägt. Und wenn José die Mutter seiner zweimonatigen Tochter oder auch mich mit dem Wort „compañera“ anspricht, dann meint das eher Genossin als eine der anderen Übersetzungen aus meinem Wörterbuch. Außer in der Redaktion von „Opción“ benutzt das Wort so sonst niemand.

José schreibt also für das Zweiwochenblatt, hauptsächlich Kulturartikel. In der Redaktion aber trifft man ihn eher selten, und dann auch nicht an einem Schreibtisch. Er arbeitet am liebsten in einer Kaschemme im Mariscal, in der ich in den vergangenen Monaten auch schon Bier getrunken und die Bekanntschaft einer Handvoll schräger Vögel gemacht habe. Nur wenn es unbedingt sein muss, setzt er sich zu Hause an seinen Computer. Den hat er sich von den 300 Dollar gekauft, die ihm ein journalistischer Preis eingebracht hat. Cuba hatte ihn für eine Reportagenserie ausgezeichnet, die er als illegaler Einwanderer aus Barcelona geschrieben hat.

Der Journalismus ist aber gar nicht sein eigentlicher Beruf. Er selber würde sich ohnehin eher als Schriftsteller bezeichnen. Sein erster Roman ist fast fertig, Einstieg, Ende und ein paar Abschnitte dazwischen kenne ich inzwischen, und zwei oder drei Kurzgeschichten außerdem. Veröffentlicht werden sollen diese Werke von „Opción“. Aber es ist nicht sein erster Roman. Seinen allerersten hat er bereits 1994 abgeschlossen, wie es in einem Artikel von „Oción“ anlässlich seiner Auszeichnung vor etwa einem Jahr nachzulesen ist. Das komplett fertige Manuskript ging damals allerdings bei einer nächtlichen Busfahrt verloren – und tauchte nie wieder auf.

Von Beruf ist José Psychoanalytiker. Nach seinem Studium hat er ein Jahr lang in einer Anstalt in Quito gearbeitet, von der er grausliche Geschichten zu erzählen weiß, und anschließend seine eigene Praxis geführt, in der natürlich niemand feste Preise, sondern nach seinen Möglichkeiten bezahlte. Die Praxis aber brachte mit der wirtschaftlichen Krise und der Dollarisierung immer weniger Geld ein, und so hat er umgesattelt.

Nach Spanien ist er damals mit 1200 Dollar in der Tasche aufgebrochen, 200 Dollar hat außerdem die Zeitung beigesteuert, 200 weitere sind bei einer Sammlung unter solidarischen Freunden zuammengekommen. Das aber reicht selbst einem genügsamen ecuadorianischen Indígena nicht für sechs Monate Leben (die, das aber nur nebenbei, natürlich auch mit einer traurigen Liebesgeschichte verbunden sind), und so hat er in Barcelona sein Geld mit zwei anderen Talenten gemacht: mit seiner Gitarre und seiner Malerei. Tatsächlich werde ich mir wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben ein Bild kaufen – wenn wir uns denn doch noch über den Preis einigen.

Die Verhandlungen darüber haben wir am Samstag nicht mehr zu Ende geführt, und nach drei Stunden Schlaf habe ich mich auch zügig auf den Weg gemacht, um von seinem Viertel „Orquidea“, das jenseits des Panecillo am östlichen Stadtausgang liegt, mit dem Bus eine Stunde lang in die Innenstadt zu zuckeln. Ziemlich lädiert, aber wach genug, um bei strahlendem Sonnenschein die Fahrt durch die Straßen zu genießen, wo am Rand Hähnchen und Maiskolben gegrillt wurden und die fliegenden Händler ein spätes Frühstück oder ein frühes Mittagessen mit Reis und fritierten Schweinestückchen anboten.

Weil ich aber, wie inzwischen jeder weiß, keinen Reis mehr sehen kann, bin ich nach einer erfrischenden Dusche in meiner Wohnung mit einem Dutzend anderer Freunde sogleich wieder aufgebrochen, in eine völlig andere Welt. Nach einer einstündigen Fahrt mit Trole und Bus landeten wir in dem Tal jenseits der Berge in Cumbayá, das ich bis dahin nur von oben kannte und wo die Ausländer und die Betuchteren leben. Und das lässt sich erkennen, ohne dass man es gesagt bekommt: Alles ist eine Spur ordentlicher, hinter Mauern lassen sich prächtige Residenzen erahnen, und an der Zufahrtsstraße zur Deutschen Schule waren so viele Geländewagen zu bestaunen, wie ich sie nie zuvor im Leben an einem Fleck gesehen habe.

Dass nun aber die Beschreibug der anderen Welt Quitos etwas unvollständig bleibt, liegt daran, dass den Deutschen beim Oktoberfest schon am frühen Nachmittag Bier und Würstel und Brezen ausgegangen waren und sie ohnehin wegen eines heftigen Hagels mit anschließendem Wolkenbruch keinen mehr reinließen, der nicht schon eine Eintrittskarte hatte. Statt uns gegen sechs Dollar Eintritt bei bayerischer Blasmusik ordentlich den Magen vollzuschlagen, traten wir unverrichteter Dinge und hungrig den Rückzug an, landeten beim Libanesen in meiner Straße und anschließend in etwas reduzierter Besetzung mit einigen Flaschen Rum und Cola bei mir in der Wohnung, wo ich ein paar Schoten vom Oktoberfest zum Besten gab, bevor wir nachts um elf schließlich in eine Reihe von Diskotheken aufbrachen.

Der Chilene Juan-Pablo, den ich kürzlich aus purer Freundlichkeit an einer meiner zwei Dosen Sauerkraut teilhaben ließ (und der, aber auch das nur nebenbei, inzwischen akzentfrei sagen kann: „I bin da Sepp“, während ich mit „Cachai?“ - „Kapiert?“ - einwandfreies Chilenisch gegenhalte), und die beiden Italiener Christian und Tancredi kündigten schließlich am Ende an, dass sie im nächsten Jahr nach München reisen würden, wenn das wirkliche Oktoberfest auch so vergnüglich sei wie dieser Tag. Also bitte: Trainiert schon mal, damit Ihr dann auch wirklich mithalten könnt!

Dienstag, 5. Oktober 2004

Das liebe Geld

Als ich heute Vormittag in das Büro der Hausverwalterin eingetreten bin und die verhutztelte kleine Frau mich wieder mit „Ah, la gringita“ begrüßte, dachte ich mir, ich muss endlich mal von ein paar praktischen Dingen erzählen. Praktische Dinge sind Rechnungen, Verträge und sonstiger Schreibkram, Adressen sowie alles, was „morgen“ fertig sein wird. „Morgen“ heißt bald. Und ich tue das auch deshalb, weil ich demnächst dieses Land verlassen und ganz offenbar in eine weitaus weniger zivlisierte Gegend Lateinamerikas fahren werde, wenn ich meinem Zentralamerika-Führer, den ich gestern zum ersten Mal gewälzt habe, glauben darf.

Bereits seit einigen Monaten bin ich stolzer Besitzer eines „Censo“. Das ist der eduadorianische Ausweis eines Ausländers mit richtiger residencia im Land, dessen Bedeutung man jedem Polizisten von neuem erklären muss. Den „Censo“ habe ich gekriegt, weil ich dem ecuadorianischen Honorarkonsul in München vier Passbilder, eine Bescheinigung meiner Bank über meine Liquidität, ein Leumundszeugnis der Generalstaatsanwaltschaft in Bonn, ein Gesundheitszeugnis meines Hausarztes, eine Kopie meines Flugtickets, vier Passbilder und 230 Euro für ein Visum hinterlassen habe und anschließend hier auf der einen Ausländerbehörde in der 10 de Agosto dieses Visum bestätigen ließ, nicht ohne vorher Kopien meines Passes, einen gelben Umschlag, zwei Schreiben des Münchner Honorarkonsuls und einige Dollar abgegeben zu haben, um dann auf der anderen Ausländerbehörde in der Avenida Republica noch einmal fünf Passbilder, Kopien meines Passes, meines Mietvertrags und des Ausweises meiner Vermieterin, eine Bestätigung von Amnistia, einen gelben Umschlag sowie einige weitere Dollar zu übergeben.

Der Vorteil des „Censo“: Das alles andere als fälschungssichere Stück Pappe mit meinem aufgeklebten Foto und der Nummer 157570 ist nur ein Viertel so groß wie mein Pass, den ich nun immer getrost zu Hause lassen kann. Der Nachteil: Wenn ich das Land verlassen will, muss ich dafür spätestens am selben Tag, aber keinesfalls mehr als 72 Stunden vorher (die schicken einen wirklich wieder heim), eine Erlaubnis einholen, die mich wieder ein paar Dollar kostet – von der Ansteherei in der Behörde will ich gar nicht sprechen. So erhöht man die Staatseinnahmen.

Theoretisch dürfte ich mit dem „Censo“, der anders als mein Sechs-Monats-Visum ein ganzes Jahr gültig ist, nicht nur allen Arten von Geschäften nachgehen, sondern auch ein Bankkonto eröffnen. Aber wofür? Angesichts meines kurzen Aufenthaltes rentiert sich die Schererei für etwas nicht, was viele Ecuadorianer ohnehin ihr ganzes Leben lang nicht brauchen. Der Lohn wird meist bar auf die Hand bezahlt, in halbwegs besseren Jobs zweiwöchentlich oder gar monatlich. Wenn die Lage mal gerade ein bisschen schlechter ist, auch mit Verspätung oder gar nicht. Deshalb werden auch alle Rechnungen bar bezahlt – oder auch gar nicht.

Und so kommt es, dass ich einmal im Monat, nämlich am 20., 200 Dollar aus meiner Dokumententasche hole (wenn ich das Geld denn gerade zur Hand habe), und damit zur Señora Hausverwalterin latsche, die ein bisschen wirkt wie ein lächelnder Zwerg, der einem beim Hinausgehen das Messer in den Rücken stößt. Die Dame residiert im ersten Stock in der hinteren Ecke eines riesigen leeren Büros an einem winzigen Schreibtisch – wenn sie nicht gerade vorne an der Kreuzung auf dem für sie viel zu hohen Holzthron des Schuhputzers sitzt.

Wenn ich mich verspätet habe mit meiner Zahlung (aber nicht allzusehr, sonst besucht mich die Señora wieder in der Wohnung) oder gerade Glück habe, liegt da auf ihrem Schreibtisch schon die Quittung meiner Vermieterin. Wenn nicht, heißt es „mañana“. Auf die letzte Quittung warte ich also schon seit dem 20. September.


Das gleiche Spielchen wiederholt sich außerdem an jedem 1. des Monats, wenn mir die Señora die Nebenkostenrechnung unter der Tür durchgeschoben hat. 33,21 Dollar habe ich heute morgen wieder in ihrem Büro abgegeben: für Putzfrau und Licht in Gang und Treppenhaus, den Abfall, die Feuerwehrleute, das Wasser, den Aufzug und die Sicherheitsleute am Eingang, die zu wecken mich nachts beim Heimkommen – Schlüssel für die Tür haben die Mieter nicht - regelmäßig mehr als fünf Minuten kostet. Seit ich einmal Zeuge einer halbstündigen Rechnung über die Höhe des Wechselgeldes von exakt 6,79 Dollar geworden bin, achte ich darauf, das Geld auf den Centavo genau zur Hand zu haben. Seither ist die Señora auch immer doppelt so süß zu mir. Und weil ich also letztlich immer bezahlt habe, wenn auch mit Latino-Pünktlichkeit, steht mein Name nicht auf der schwarzen Liste der Schuldner, die in einer Glasvitrine am Eingang zwischen den beiden Aufzügen hängt – von denen abgesehen davon natürlich immer nur einer funktioniert.

Nun sind aber Miete und Nebenkosten – wie zu Hause in Deutschland auch – nicht die einzigen Rechnungen. Auch die Stromrechnung liegt einmal im Monat auf dem Boden hinter der Eingangstür, denn Postboten gibt es ebensowenig wie Briefkästen. Wenn ich diesen kryptischen Zettel also wieder mal finde, habe ich genau zehn Tage Zeit zu bezahlen. Wenn ich das nun bis zum letzten Tag vergesse, nimmt keine Bank mehr mein Geld. Ich muss dann mit dem Trole bis zur Station Mariana de Jesus fahren, um bei der Firma direkt meine Schulden zu begleichen. Was alle anderen an diesem Tag natürlich auch tun.

Aber immerhin – für den Strom erhält man eine Rechnung. Das spart sich die Telefongesellschaft Andinatel gleich ganz. Die haben einfach für jedes Stadtviertel einen anderen Zahlungstag verordnet, der manchmal auch ohne Ankündigung wechselt, und wenn man das nicht weiß oder immer noch auf seine Rechnung wartet, dann drehen sie einem den Saft ab – so wie mir. Also bin ich mit dem Bus zu Andinatel in die Eloy Alfaro gefahren, habe auch dort eine Nummer gezogen und brav gewartet, bis ich dran war, und die Rechnung beglichen auf einen Namen, der weder meiner noch der meiner Vermieterin noch der meiner Vormieterin ist, und still gehofft, dass ich die richtige Telefonnummer angegeben und nicht die Schulden eines Wildfremden bezahlt habe.

Aber immerhin, so viel hatte ich gesehen im Computer (im Gegensatz zu Behörden arbeitet diese Firma bereits mit Computer), die Adresse war richtig gewesen. Diese wird normalerweise mit den beiden Straßennamen der nächsten Kreuzung angegeben. Außerdem gibt es üblicherweise zwei Nummern: die alte und die neue, wobei ich nie weiß, welche welche ist und mich deshalb bei der Suche oft kilometerweise vom Zielort entferne. Mein Haus aber hat beispielsweise überhaupt keine Nummer, dafür einen Namen, und so lautet meine Adresse: Veintimilla y Reina Victoria, Grecia II. Weshalb es am sichersten ist zu sagen: neben der Feuerwehr in dem Gebäude mit dem Friseurgeschäft im Erdgeschoss. Was alle anderen natürlich auch machen, was man aber schlecht auf einen Absender oder eine Visitenkarte schreiben kann und weshalb ich immerzu am Suchen bin und (siehe auch oben) dafür mindestens 20 Minuten extra einkalkulieren muss. Manchmal reicht nicht einmal das, denn mitunter gibt es die gleiche Straße im Abstand von einem Kilometer doppelt. Schön, wenn man dann in der falschen Calle Andalusia auch noch einen Taxifahrer erwischt, der sagt: „Aber in der Andalusia stehen Sie doch.“

Immerhin aber gibt es in Quito Straßennamen und manchmal auch -schilder, was in Nicaraguas Hauptstadt Managua nicht der Fall zu sein scheint. Das Hostal, das ich mir schon mal in meinem Führer ausgesucht habe, liegt – offizielle Adresse - „einen Block nördlich und einen Block östlich vom Ticabus-Terminal“. Da ich meinen Kompass nicht dabei habe und auch nicht vorhabe, mir einen anzuschaffen, bin ich jetzt schon gespannt, wie lange ich brauche, um das zu finden. Aber einen Vorteil hat ein Hostal: Dort gibt es nur eine Rechnung.

Sonntag, 3. Oktober 2004

La Parillada





Habe gerade einen Berg Garnelen mit Weißbrot verputzt, ein Bier aufgemacht und eine meiner neuen Salsa-CDs in den Computer geschoben. Bei aller immer noch anhaltenden Euphorie muss ich allerdings zugeben, dass es hier eine Sache gibt, die mir langsam richtig auf die Nerven geht: Reis. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Die Ecuadorianer essen Reis zum Frühstück, Mittag- und Abendessen wie wir Brot, und wenn ich schon die weiße Pampe mit einem Stück Banane und ein paar fettigen Pommes dazu sehe, wünsche ich mir einen ordentlichen Knödel - oder wenigsten Kartoffeln. Deshalb habe ich mir in dieser Woche zum ersten Mal einen großen Berg Semmelknödel gemacht und Gulasch dazu gekocht. Um genau zu sein, waren es so viele Knödel, dass ich anderntags immer noch welche hatte, um sie mit dem Sauerkraut zu essen, das mir Petra auf meine Bitten nach Peru mitgebracht hat. Ein Festmahl. Für mich. Während die ausländischen Freunde das Gulasch verschlangen, für die Semmelknödel konnte ich sie nicht richtig erwärmen.

Aber weil es eigentlich niemanden gibt, der das ecuadorianische Essen noch sehen kann, haben wir uns kürzlich auf den Weg gemacht zu einem Plätzchen, das Isar, Attel und Leitzach zwar nicht annähernd ersetzt, aber immerhin ein bisschen Freizeitgefühl aufkommen lässt. Mein Ecuador-Reiseführer sieht schon reichlich zerfleddert aus (auch wenn Petra in Peru meinte, ich hätte ja noch nicht viel gesehen), aber dieses Plätzchen findet sich darin nicht. Es ist eher Naherholungsziel für smoggeschädigte Quiteñer denn Touristenattraktion.


Der Ort heißt Parque Metropolitano Guangüiltagua, zieht sich im Nordosten der Stadt den Berg hinauf und ist so etwas wie ein kleines Naturreservat. Na ja, für ecuadorianische Verhältnisse sieht die Natur eher mager aus: Grasflächen, Eukalyptus-Wäldchen, Lamas, Kunstwerke und Eisverkäufer. Aber der Berg gibt den Blick auf den gesamten Norden der Stadt frei, und wenn man einmal über die Kuppe gelaufen ist, eröffnet sich auf der anderen Seite das Tal Cumbaya, wo die Betuchteren und die Ausländer leben. Aber weder Natur noch Aussicht waren das Ziel unseres Ausflugs am vergangenen Wochenende.

Samstagmittag sind wir mit einem Sack Kohlen über der Schulter und einigen Kilo Fleisch und Würstel im Rucksack, einem Fünf-Liter-Bottich Wasser und einigen Flaschen Wein, Brot, Servietten, Plastiktellern, Decken und was sonst noch dazugehört, also ordentlich bepackt, in den Oberleitungsbus gestiegen, der an diesem Tag noch voller war als sonst. Am Fußballstadium Atahualpa haben wir den Ecovia wieder verlassen, sind in zwei Taxen das Viertel Batan hochgezuckelt und schließlich im Park noch eine halbe Stunde zu Fuß gelaufen. Und da waren wir, wo wir den Rest des Tages zu verbringen gedachten: vier überdachte, gemauerte Grillplätze oberhalb eines Steilhangs mit unverstellbarem Blick auf Cumbaya.


Die richtigen Grillexperten haben natürlich gefehlt. Noch bevor sich jemand halbwegs niedergelassen hatte, schüttete Juan-Pablo schon die gesamte Kohle auf Zeitungspapier und machte sich mit Unterstützung von Tancredi, wilder Blaserei und hilflosem Gestochere und eindeutig mehr Entschlossenheit denn Können daran, die schwarzen Klumpen zu entzünden. Was unter anderem am scharfen Wind scheiterte, der vom Tal heraufblies. Die Hilfe von uns Mädels, Ana, Linda und ich, war eher nicht gefragt, wir öffneten derweil schon mal den Wein, und wenn nicht vom Nachbarplatz eine Ecuadorianerin mit glühender Kohle und Brennspiritus zu Hilfe geeilt wäre, säßen wir wahrscheinlich heute noch auf einem Berg roher Wurst- und Fleischwaren.


Während es nebenan irgendwann brutzelte, ließen wir uns auf den Decken nieder, zogen in der stechenden Sonne Schuhe, Strümpfe, Jacken und Pullover aus, und gerade als Ana auf meine Bitte hin zum dritten Mal „The Girl of Ipanema“ sang, hatten die dicken schwarzen Regenwolken unseren Berg auch schon erreicht. Hagel, Regen, Blitz und Donner folgten ziemlich schnell. Und kurz darauf hatten alle wieder alles an, was sie zuvor im Rucksack verstaut hatten, und versuchten sich am Grillfeuer zu wärmen. Fast wie in Deutschland also. Aber ich kann beteuern: ein ordentlich gegrilltes Stück Fleisch, das mehr ist als nur ein Haufen Fett und Flacksen und auch nicht nach Hund schmeckt - auch das wurde mir schon aufgetischt, jedenfalls schloss das ein Ecuadorianer nach meiner Beschreibung des Fetzelchens, das sich weder mit Zähnen noch Messer zerteilen ließ, schichtweise aufgebaut war und einen ziemlich bitteren Geschmack hatte – ein Festmahl für alle.

Wirklich das einzige, was ich in der ecuadorianischen Küche nach einigen Monaten wirklich noch gelten lasse, das ist Ceviche. Das beste bisher habe ich in der vergangenen Woche bei meiner ersten privaten Essenseinladung in einen ecuadorianischen Haushalt aufgetischt bekommen. Der Koch heißt Alejandro Santillan, und dass ich bis jetzt noch nichts von ihm geschrieben habe, liegt auch daran, dass ich von seinem Leben nach wie vor nur bruchstückhafte Informationen habe. Und der Abend mit einem linken Diplomaten aus dem ecuadorianischen Außenministerium von der Statur eines Riesen, einer jungen hübschen brasilianischen Politologin, die einen Journalisten der SZ namens Dominik kennt, einem gemütlichen dicken ecuadorianischen Fotografen, einem Filmemacher, der aussieht als wäre er von den 68-ern übriggeblieben (wahrscheinlich Kolumbianer, denn linksintellektuell und gut aussehende Männer hier sind meistens aus dem Nachbarland im Norden), dem ehemaligen deutschen Entwicklungshelfer und heutigen TV-Journalisten Siegmund Thiel und dessen schwarzer ecuadorianischen Freundin, die in der Quiteñer Stadtverwaltung arbeitet, also auch an diesem Abend habe ich nicht sehr viel mehr über den Gastgeber erfahren.


Alejandro Santillan dürfte etwa 50 sein, reicht mir etwa bis zum Ohr, so dass ich immerzu direkt in sein zerfurchtes Gesicht sehen kann, wenn ich mit ihm spreche, er trägt langes wehendes, aber bereits etwas schütteres schwarzes Haar und steht wahrscheinlich die meisten Momente seines Lebens kurz vor der Pleite. Alejandro ist Filmemacher, Anthropologe, Unidozent, dreht hin und wieder mit einem deutschen Filmemacher und arbeitet öfter mit Siegmund Thiel zusammen, über den ich ihn vor einigen Monaten auch kennen gelernt habe. Er weiß Geschichten von Shamanen und wundersamen Ereignissen zu erzählen mit einer Stimme wie aus dem Märchenbuch, ist halb italienischer Abstammung, lebt im gleichen Haus wie seine 90-jährige Oma, eine Familie des praktisch fast ausgestorbenen „Waldmenschen“-Stammes der Zaparos (so die Bezeichnung in meinem Führer) hat ihn praktisch als Sohn angenommen, alle anderen Stämme kennt er wie Zweige seiner eigenen Familie, und er ist von kaum zu überbietender Herzlichkeit.

Ihm nun habe ich es zu verdanken, dass ich diese Woche zum ersten Mal mein eigenes Ceviche fabrizieren kann: Wasser kochen, vom Herd nehmen, Fisch und/oder anderes Meeresgetier reingeben, abtropfen und auskühlen lassen, mit Zwiebeln und grünen Peperonis mischen und mit Öl, Tomaten-, Orangen- und Zitronensaft sowie Salz und Pfeffer würzen. Dazu isst man Bananenchips oder Popcorn. Und der Geheimtipp von Alejandros bereits verstorbenen Mutter: ein bisschen Zucker. Ich werde berichten, wie es geworden ist.