Mittwoch, 13. Oktober 2004

Cachai?

Auch wenn sich meine Kondition im Ausgehen und Trinken im vergangenen halben Jahr beträchtlich erhöht hat, auch wenn ich inzwischen drei Tage in Folge mit weniger als einer Handvoll Stunden Schlaf auskomme und auch wenn es inzwischen einige Menschen schwören, dass einer meiner Vorfahren ein Latino gewesen sei – ich selbst habe hier zum ersten Mal festgestellt, WIE deutsch ich bin, und es gibt genügend Momente, in denen ich mich geschlagen geben muss.

So etwa Samstagmorgen um sechs, als ich mich in der Wohnung von José mitsamt meiner Klamotten auf eine Strohmatte legte und ziemlich prompt und selig in den Schlaf glitt. Mein früher Abgang nach nur zwölf Stunden Feiern, Quatschen und Trinken, den ich immerhin damit rechtfertigen konnte, dass ich bereits in der Vornacht über die Stränge geschlagen hatte, wurde mit Enttäuschung quittiert.

Aber ich will gar nicht von mir erzählen, sondern erst einmal von José. Grund seiner Einladung war der Todestag von Che. Anlass früherer Einladungen war unter anderem etwa der 40. Geburtstag der kommunistischen Partei Ecuadors gewesen. Daran lässt sich schon erkennen, auf welcher Seite das Herz des 37-Jährigen schlägt. Und wenn José die Mutter seiner zweimonatigen Tochter oder auch mich mit dem Wort „compañera“ anspricht, dann meint das eher Genossin als eine der anderen Übersetzungen aus meinem Wörterbuch. Außer in der Redaktion von „Opción“ benutzt das Wort so sonst niemand.

José schreibt also für das Zweiwochenblatt, hauptsächlich Kulturartikel. In der Redaktion aber trifft man ihn eher selten, und dann auch nicht an einem Schreibtisch. Er arbeitet am liebsten in einer Kaschemme im Mariscal, in der ich in den vergangenen Monaten auch schon Bier getrunken und die Bekanntschaft einer Handvoll schräger Vögel gemacht habe. Nur wenn es unbedingt sein muss, setzt er sich zu Hause an seinen Computer. Den hat er sich von den 300 Dollar gekauft, die ihm ein journalistischer Preis eingebracht hat. Cuba hatte ihn für eine Reportagenserie ausgezeichnet, die er als illegaler Einwanderer aus Barcelona geschrieben hat.

Der Journalismus ist aber gar nicht sein eigentlicher Beruf. Er selber würde sich ohnehin eher als Schriftsteller bezeichnen. Sein erster Roman ist fast fertig, Einstieg, Ende und ein paar Abschnitte dazwischen kenne ich inzwischen, und zwei oder drei Kurzgeschichten außerdem. Veröffentlicht werden sollen diese Werke von „Opción“. Aber es ist nicht sein erster Roman. Seinen allerersten hat er bereits 1994 abgeschlossen, wie es in einem Artikel von „Oción“ anlässlich seiner Auszeichnung vor etwa einem Jahr nachzulesen ist. Das komplett fertige Manuskript ging damals allerdings bei einer nächtlichen Busfahrt verloren – und tauchte nie wieder auf.

Von Beruf ist José Psychoanalytiker. Nach seinem Studium hat er ein Jahr lang in einer Anstalt in Quito gearbeitet, von der er grausliche Geschichten zu erzählen weiß, und anschließend seine eigene Praxis geführt, in der natürlich niemand feste Preise, sondern nach seinen Möglichkeiten bezahlte. Die Praxis aber brachte mit der wirtschaftlichen Krise und der Dollarisierung immer weniger Geld ein, und so hat er umgesattelt.

Nach Spanien ist er damals mit 1200 Dollar in der Tasche aufgebrochen, 200 Dollar hat außerdem die Zeitung beigesteuert, 200 weitere sind bei einer Sammlung unter solidarischen Freunden zuammengekommen. Das aber reicht selbst einem genügsamen ecuadorianischen Indígena nicht für sechs Monate Leben (die, das aber nur nebenbei, natürlich auch mit einer traurigen Liebesgeschichte verbunden sind), und so hat er in Barcelona sein Geld mit zwei anderen Talenten gemacht: mit seiner Gitarre und seiner Malerei. Tatsächlich werde ich mir wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben ein Bild kaufen – wenn wir uns denn doch noch über den Preis einigen.

Die Verhandlungen darüber haben wir am Samstag nicht mehr zu Ende geführt, und nach drei Stunden Schlaf habe ich mich auch zügig auf den Weg gemacht, um von seinem Viertel „Orquidea“, das jenseits des Panecillo am östlichen Stadtausgang liegt, mit dem Bus eine Stunde lang in die Innenstadt zu zuckeln. Ziemlich lädiert, aber wach genug, um bei strahlendem Sonnenschein die Fahrt durch die Straßen zu genießen, wo am Rand Hähnchen und Maiskolben gegrillt wurden und die fliegenden Händler ein spätes Frühstück oder ein frühes Mittagessen mit Reis und fritierten Schweinestückchen anboten.

Weil ich aber, wie inzwischen jeder weiß, keinen Reis mehr sehen kann, bin ich nach einer erfrischenden Dusche in meiner Wohnung mit einem Dutzend anderer Freunde sogleich wieder aufgebrochen, in eine völlig andere Welt. Nach einer einstündigen Fahrt mit Trole und Bus landeten wir in dem Tal jenseits der Berge in Cumbayá, das ich bis dahin nur von oben kannte und wo die Ausländer und die Betuchteren leben. Und das lässt sich erkennen, ohne dass man es gesagt bekommt: Alles ist eine Spur ordentlicher, hinter Mauern lassen sich prächtige Residenzen erahnen, und an der Zufahrtsstraße zur Deutschen Schule waren so viele Geländewagen zu bestaunen, wie ich sie nie zuvor im Leben an einem Fleck gesehen habe.

Dass nun aber die Beschreibug der anderen Welt Quitos etwas unvollständig bleibt, liegt daran, dass den Deutschen beim Oktoberfest schon am frühen Nachmittag Bier und Würstel und Brezen ausgegangen waren und sie ohnehin wegen eines heftigen Hagels mit anschließendem Wolkenbruch keinen mehr reinließen, der nicht schon eine Eintrittskarte hatte. Statt uns gegen sechs Dollar Eintritt bei bayerischer Blasmusik ordentlich den Magen vollzuschlagen, traten wir unverrichteter Dinge und hungrig den Rückzug an, landeten beim Libanesen in meiner Straße und anschließend in etwas reduzierter Besetzung mit einigen Flaschen Rum und Cola bei mir in der Wohnung, wo ich ein paar Schoten vom Oktoberfest zum Besten gab, bevor wir nachts um elf schließlich in eine Reihe von Diskotheken aufbrachen.

Der Chilene Juan-Pablo, den ich kürzlich aus purer Freundlichkeit an einer meiner zwei Dosen Sauerkraut teilhaben ließ (und der, aber auch das nur nebenbei, inzwischen akzentfrei sagen kann: „I bin da Sepp“, während ich mit „Cachai?“ - „Kapiert?“ - einwandfreies Chilenisch gegenhalte), und die beiden Italiener Christian und Tancredi kündigten schließlich am Ende an, dass sie im nächsten Jahr nach München reisen würden, wenn das wirkliche Oktoberfest auch so vergnüglich sei wie dieser Tag. Also bitte: Trainiert schon mal, damit Ihr dann auch wirklich mithalten könnt!

Keine Kommentare: