Samstag, 30. Juni 2007

Lima im Juni

Der Vollmond scheint ueber der Bucht, ein frischer Wind weht vom Strand, und der Sand knirscht zwischen den Zaehnen. Waehrend Ihr von Eurem Pfingsturlaub zurueck seid, habe ich mir jetzt drei Tage Auszeit gegoennt. In Máncora nahe der ecuadorianischen Grenze, wohin es der Humoldtstrom nicht schafft und deshalb auch im Winter das Meer schoen warm ist. Drei Tage Ferien, um meine mueden und wehen Knochen auszuruhen. Wie alle Monate bisher hat der Juni sehr geruhsam angefangen - und gegen Ende hin ein solches Tempo entwickelt, dass mir fast schwindlig wurde.

Was tu ich hier eigentlich, war die Frage gewesen. Ich schaue natuerlich nicht taeglich zu, wie ein 80 Hektar grosses Terrain mit Traenengas geraeumt wird, wie ich es das letzte Mal beschrieben hatte. Tatsaechlich gehe ich jeden Tag in dieses Kabuff, das sich Buero nennt, und schreibe an einem Konflikt-Handbuch fuer die ueber 400 Defensoría-Mitarbeiter. Das kriegen die im Herbst, wenn ich sie in zweitaegigen Fortbildungen zum selben Thema schule.

Das ist eine von mehreren Aufgaben, und das klingt jetzt so einfach, und tatsaechlich habe ich schon 50 Seiten geschrieben. In Wirklichkeit aber brauche ich dafuer erstmal den Defensoría-Blick. Um den zu kriegen, mache ich in meiner eigenen Abteilung zweimal die Woche einen Mini-Workshop. Der erfuellt gleichzeitig den Zweck, schon mal meine direkten Kollegen fortzubilden: wie man soziale Konflikte systematisch analysieren und Strategien fuer eine Intervention entwickeln kann, wie man interveniert, wie man die Einhaltung der ausgehandelten Vereinbarungen kontrolliert, wie man das alles dokumentiert – und zuletzt auch noch gut an die Presse verkauft.

Dass jetzt keiner denkt, das ginge alles automatisch und nach Plan. Ja, ja, es gibt einen Plan – mit Datum und Uhrzeit und Thema fuer Besprechungen bis in den August hinein. Tatsaechlich muss ich aber um jeden Termin, um jede halbe Stunde kaempfen, und wenn ich montags mit dem Chef ausmache, dass wir uns Dienstag und Freitag zusammensetzen, dann weiss ich erst in dem Moment, in dem der Chef in unser Kabuff kommt (in der Regel nach dreimaliger Aufforderung meinerseits und mit dreiviertelstuendiger Verspaetung und am Schluss meistens an einem anderen Tag als ausgemacht), dass die Besprechung auch wirklich stattfindet.

Also bis vor kurzem tat mein Chef eigentlich so, als wuerde ich den Betrieb aufhalten und als haette man mich ihm vor die Nase gesetzt und nicht er jemanden fuer seine Abteilung beantragt. Bis vor kurzem. Es hat mich verdammt viel Nerven, Gehirnschmalz und Schweiss gekostet, ihn zu knacken – und nun muss ich aufpassen, dass das Pendel nicht in das andere Extrem ausschlaegt.

Wie das kam, keine Ahnung. Bei einem unserer seltenen gemeinsamen Mittagessen zwang er mich kuerzlich in ein Gespraech ueber das Thema Loyalitaet, das unausgesprochen nur um uns ging und wie wir zueinander stehen. Also um genau zu sein: wie ich zu ihm stehe. Ich kam mir vor, als wuerde ich auf einem Nagelbrett tanzen. Und dann habe ich die Gratwanderung gewagt, diese ganzen theoretischen Analysehilfsmittel anhand eines Konflikts anwenden zu lassen, der von Seiten meines Chefs als beendet und als sein Paradestueck gilt - aber noch lange nicht ausgestanden ist. Er hat dabei nicht sein Gesicht verloren und trotzdem ploetzlich was kapiert. Er war wie elektrisiert, ist seither viel freundlicher und schickte mich ausserdem – quasi ueber Nacht - auf zwei Reisen.

Am vergangenen Montag querte ich die Anden, um auf der anderen Seite in La Merced einen Konfliktworkshop mit lokalen Autoritaeten zu halten. Als ich Mittwoch zurueck wollte, gab es nach Lima keinen Transport. Die einzige Strasse war von Minenarbeitern blockiert worden, die schon seit zwei Wochen fuer ihr gutes Recht streiken. Statt also in einem Rutsch sieben Stunden durch Steinriesen, kahle Hochflaechen und verseuchte Minensiedlungen zu tuckeln, begann eine muehevolle Reise in kleinen Schritten.


(La Merced vom Hotelzimmer aus)


In La Merced nahm ich einen Bus nach Tarma. Dort wartete ich an einem Sammeltaxi, bis genuegend Passagiere beisammen waren fuer den Weg nach La Oroya, wo ich eine Stunde spaeter in ein anderes Sammeltaxi wechselte, das mich dorthin brachte, wo der LKW-Stau anfing. Dann ging ich ein Stueck zu Fuss einen Abhang hinunter, bis mich ein Lastwagenfahrer mitnahm, der auf diesem Ziegenpfad am Stau vorbei ueber Stock und Stein hinunterschepperte bis zur eigentlichen Blockade. Dort begann der Marsch - immer in Deckung und mit Blick auf die Hoehen rechts, von denen die Minenarbeiter aus Protest gegen Blockadebrecher mit Gebruell Steinbloecke hinunterrauschen liessen.

Nach einer Stunde Fussweg - auf 4200 Metern Hoehe und im Militaerschritt, ich hatte mich der Sicherheit halber einem sympathisch aussehenden jungen Mann angeschlossen, der, wie sich dann herausstellte, Soldat war – kam ich mit zwei riesigen Blasen an den Sohlen auf der anderen Seite der Blockade an. Dort lief ich weiter an den aufgestauten Lkws vorbei, bis ich mit sieben anderen einen Kombi fand, der uns auf Sitzen und im Kofferraum bis ins naechste Dorf fuhr. Da taten wir einen Lastwagen auf, der gerade aus dem Stau ausscherte, umdrehte und Fahrgaeste mit nach Lima nahm.

Als der Fahrer die Klappe der Ladeflaeche aufmachte, sassen da schon 30 Erwachsene mit nochmal so vielen Kindern drin, die alle heftig maulten, uns aber dann doch raufliessen. Zweieinhalb Stunden in Schweinekaelte im offenen Lastwagen – da half mir auch mein Wintermantel nichts mehr. Ich kuschelte mich in der Hocke (Platz fuer die Beine war nicht) unter die Decke zu den Hochlandindiandern, zog mir das gute Stueck bis zur Nase und die Kaputze ueber die Augen. Alle halbe Stunde stand ich auf, um die eingeschlafenen Beine zu strecken. Dann hielt ich mich notduerftig an einem Metallhaken an der wackeligen Holzwand fest, waehrend der Wucherer am Steuer ohne Ruecksicht auf Verluste die Serpentinen Richtung Lima hinunterschoss.

In einem Aussenbezirk schmiss er uns raus. Dort nahm ich einen Mikrobus in die Innenstadt. Ich schlief auf meinem Sitz ein, obwohl die fast zweistuendige Fahrt durch ein paar sehr unangenehme Bezirke fuehrte. Am Rand der Altstadt, wo ich auch bei Dunkelheit ohne Gefahr aussteigen konnte, nahm ich ein Taxi. Als ich die Tuer von meiner Wohnung aufsperrte, hatte ich den ganzen Tag noch nichts gegessen und getrunken, hatte keine Zeit gehabt, zum Pieseln zu gehen und war zwoelf Stunden unterwegs gewesen. Am anderen Tag las ich in der Zeitung, dass ein Polizist der Sondereinheiten, die gerade ankamen, als ich die Blockade passiert hatte, bei der versuchten Raeumung gestorben war – durch einen Stein.

Aber ich hatte nicht viel Zeit, darueber nachzudenken, denn da stieg ich schon in das Flugzeug nach Piura. Drei Stunden noerdlich der Stadt geniesse ich jetzt am Strand die Feiertage mit ein bisschen Sonne. Am Montag kommt mein Kollege nach, dann muessen wir hier im Hinterland in Tambogrande einen anderen Minenkonflikt recherchieren. Aber worum es bei all diesen Konflikten geht, das erzaehle ich ein andermal...