Sonntag, 14. März 2010

Vergessen von aller Welt


Die Delegation der Defensoría del Pueblo bestand aus drei meiner Kollegen, dem Fahrer und mir. In Aten waren wir die ersten Besucher einer staatlichen Institution seit Jahren. Nach unserer Ankunft stieg der Dorfführer auf den Kirchturm und schlug die Glocke dreimal kurz an und läutete dann Sturm. Etwa eine Stunde später waren die, die nicht gerade auf den Feldern arbeiteten, auf dem Dorfplatz zusammengekommen. Die Versammlung konnte beginnen.

Von Apolo (siehte unten) sind es 25 Kilometer oder anderthalb Autostunden nach Aten. Apolo ist bereits das Ende der Welt. Was ist dann Aten?

In dem Ort leben Menschen, die weder Geburtsurkunde noch Ausweis besitzen. Es führt kein öffentlicher Transport in das Dorf, Auto besitzt niemand. Das Handynetz funktioniert nicht. Die Menschen leben von dem, was sie anbauen. Der einzige Laden im Ort führt ein paar Flaschen Limo, ein Regal Konserven und sonst nicht viel mehr. Die meisten laufen barfuß auf den Saumpfaden durchs Dorf. Viele Frauen sprechen nur Kechua. Die Kinder haben aufgeblähte Bäuche von dem vielen Ungeziefer im Darm, das aus dem Wasser kommt, das sie trinken.

"Vielen vielen Dank für den Besuch", eröffnete jeder, der etwas sagte in der Versammlung, seine Rede. "Seit kurzem haben wir Strom im Ort, jetzt können die Staatsangestellten auch mit ihren Computern hier arbeiten, wenn sie kommen. Aber sie kommen nicht", beschwerten sich die Dorfbewohner. Schilderten dann, wie es ist für die Alten, die in ihrem Leben nicht aus Aten rausgekommen sind, wenn sie plötzlich in die Provinzhauptstadt Apolo müssen, um ihre von Evo eingeführte Grundrente abzuholen. Und sie redeten vom Konflikt um das Land, von dem die Regierung in La Paz nur Kenntnis nimmt, wenn es gerade wieder Straßenblockaden oder Entführungen gibt.

Aten: Ein Ort, vergessen von der ganzen Welt.

Wir taten nicht viel. Wir nahmen die Beschwerden auf und kündigten an, demnächst öfter präsent zu sein, weil wir jetzt mit einem Mitarbeiter in der Region arbeiten würden.

Als die Versammlung schon ihrem Ende zuging, sagte mein Kollege Hector plötzlich: "Quieren que la compañera acá diga algo?" - "Ihr wollt, dass die Kollegin hier auch was sagt?" Alle lachten verschämt und nickten heftig mit den Köpfen. Da musste ich also auch was sagen.

Die Frauen kamen hinterher zu mir her, drückten mir fest den Arm, küssten mich auf die Wange und bedankten sich überschwänglich für mein Dasein. Dabei hatte ich nur doof dabeigesessen. Beim Mittagessen luden sie mir die doppelte Portion Reis auf. "Du bist einfach zu dünn", sagte Héctor lachend. Es schmeckte hervorragend. So gut essen die Leute aus Aten wahrscheinlich nur einmal im Jahr: Nudelsuppe und wildes Huhn in Erdnusssoße. Erdnuss aus eigenem Anbau. Ich aß fast auf. Nur von der Chicha, einem fermentierten Maisgetränk, nahm ich dankend Abstand.

Nach dem Essen brausten wir wieder davon und nach La Paz. Und ließen Aten dort zurück, wo es immer gewesen war: in der Vergessenheit.



Héctor und Jorge aus der Defensoría, der Dorfführer und unser Fahrer (von rechts).



Die Männer von Aten.


Der Versammlungsraum.


Limopause mit den Kollegen am Dorfladen.


Sitz des Wasserkommittees am Hauptplatz.


Und der Fußballplatz.

Ganz weit weg von allem


Apolo liegt weniger als 400 Kilometer nördlich von La Paz, und man braucht im Bus gerne mal 17 Stunden dorthin. Das Provinzkaff liegt am Ende einer schlechten Piste, am Eingang zum Nationalpark Madidi, zwischen Anden und Tiefland. Es könnte dort sehr idyllisch sein. Ist es aber nicht.
Mit drei Kollegen recherchierte ich dort anderthalb Tage lang den Konflikt: Einige Dörfer definieren sich als Lekos, andere als Kechua, beide Gruppen beanspruchen dasselbe Land, tatsächlich ist die Gegend seit Jahrhunderten ein Schmelztiegel der Kulturen und Völker, und in Wirklichkeit geht es darum, dass alle irgendwie die Armut hinter sich lassen möchten.
Auch wenn ich glücklich bin, wenn ich nicht am Schreibtisch sitze - so ein Aufenthalt ist nicht immer das reinste Zuckerschlecken. Das Hotelzimmer ist klein, stickig, ohne Fenster. Das Essen ist schlecht. Ordentlichen Kaffee sucht man lange. Jedes falsche Wort in den Interviews mit lokalen Autoritäten wie Bürgermeister, Stadträten, Ortsbauer, Pfarrer oder indigenen Anführern kann fatale Konsequenzen haben. Und nicht zuletzt weiß jeder im Ort, wann Du mit wem geredet hast. Die Äbtissin des Konvents spricht vorsichtshalber gleich gar nicht mit uns.
Wenn sich der neue Defensor, der immer noch nicht gewählt ist, dazu entschließt, die vorgeschlagene Dialogstrategie abzusegnen, dann bin ich demnächst wahrscheinlich öfter in Apolo. In Bolivien-Führern sucht man den Ort übrigens umsonst. Er hat aber durchaus auch seine Reize. Also, ich fahre eigentlich doch ganz gerne dorthin. Na ja, um ehrlich zu sein: Ein sehr guter Freund von mir lebt in dem Kaff...


Laden am Abend.


Hähnchen-Bude - das einzige, wo es abends noch etwas zu essen gibt.


Auf dem Weg zum Hauptplatz


Kollege Hector auf dem Weg zum Kloster.


Der Metzger


Gemüseladen.


Indigener Held. Die Statue stand auf dem Hauptplatz, bis die Bauern sie verstümmelten, nun vergammelt sie im Hof des Bürgermeisteramts.


Aktuersanalyse des Konflikts.


Verhalten, Haltung und Ursachen, die den Konflikt stützen.


Ursachen und Folgen des Konflikts.

Ganz autonom


Der Weg in den Norden des Departamentos La Paz Richtung Apolo (siehe oben) ist beschwerlich, aber einer der spektakulärsten. Unter anderem kommt man durch Charazani, Zentrum einer Heiler-Kultur, die von den Vereinten Nationen zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Kallawaya heißt diese Kultur, in der seit Jahrhunderten von Generation zu Generation ein umfangreiches Wissen über Heilkräuter weitergegeben wird.
Der Ort ist übrigens einer der ersten, der seine indigene Autonomie erlangte und bereits sein Statut ausgearbeitet hat. Ab den Kommunalwahlen am 4. April heißt der Bürgermeister dort nicht mehr Bürgermeister, sondern trägt wieder seinen althergebrachten Titel, er wird künftig außerdem nach den Gebräuchen der Region gewählt und nicht mehr per Stimmzettel im Wahllokal. Das sind die sichtbaren Zeichen des tiefgreifenden Staatsumbaus, den Bolivien erlebt.
Uns war ein ordentliches Mittagessen bei unserem Stopp allerdings wichtiger: Griessuppe als Vorspeise, Linseneintopf mit Reis als Hauptgericht.


Gaststätte.


Kallawaya-Statue.


Plakette am Sockel zur Erklärung der Gegend zum "Weltkulturerbe der Menschheit".



Gaststätte.

Samstag, 6. März 2010

Zufälle gibt´s


Zum ersten Mal reiste ich in die Chiquitanía, das an der Grenze zu Brasilien liegt, und besuchte dort mit einer DED-Gruppe eine Chiquitano-Gemeinde. In Candelaria leben 112 Familien. Es begrüßte uns der Bürgermeister, eine Frau hielt die Rede, die Jugend führte zwei Tänze auf, es gab Chicha aus Mais, die Alten erzählten Geschichten von früher, und zum Abendessen servierte uns das Dorf Masacu de Pato. Das ist Reis und Banane vermischt mit Entenfleisch.

Wir waren die ersten Touristen im Dorf. Ein richtig interkulturelles Treffen, denn in unserer Gruppe waren außer ein paar Deutschen noch ein Peruaner, ein Spanier, ein Kolumbianer, ein Guatemalteke und natürlich Bolivianer aus anderen Gegenden des Landes.

Bei einem Rundgang durch die Gemeinde fasste ich mir ein Herz und sagte zu Arminia, der Frau, mit der ich mich schon eine ganze Weile unterhalten hatte: "Eine Freundin von mir hat hier in der Gegend mal eine Zeitlang gelebt." Ich sprach von Gudrun, meiner Mitbewohnerin. Es stellte sich heraus, dass Gudrun sich nicht nur oft in diesem Dorf aufgehalten hatte, sondern dass diese Frau auch noch Gudruns beste Freundin im Ort gewesen war. Vor 16 Jahren.

Es gab Tränen der Freude, ich lernte Arminias Tochter kennen, die eigentlich Gudruns Namen tragen sollte, und musste zwei alte Fotos der Familie für meine WG-Mitbewohnerin mitnehmen. Die staunte nicht schlecht, als ich die Bilder auf den Küchentisch legte. Zufälle gibt´s.














Arminia mit drei ihrer neun Kinder.