Montag, 24. Mai 2004

Maldita fábricas de melankolías




Ihr schickt Euch wahrscheinlich gerade langsam an, ins Bett zu gehen, während ich eben mit meinen Kollegen von einem späten und außerordentlich gehaltvollen Mittagessen zurückkomme: Zeitlich hinke ich Euch sieben Stunden hinterher.

Wir waren in einem der vielen kleinen Lokale, die ohne Schnickschnack wie Tischdecken oder Wandschmuck, dafür immer mit Fernseher in voller Lautstärke für wenig mehr als einen Dollar mittags ein Menü anbieten. Heute gab es Rindssuppe mit Banane, Maisknödel, Reis und Gemüse als Einlage, anschließend Reis mit gebratener Banane, Nudeln und einem Stückchen Huhn. Und hinterher wartete noch eine gezuckerte Teigtasche mit Käsefüllung auf uns. Hier in der Umgebung der Straße 10 de agosto, wo ich arbeite, gibt es eine Unmenge dieser Lokale, wo man schnell und reell was in den Magen kriegt. Wenn es mal nicht so gut schmecken sollte, steht auf dem Tisch immer eine meist hausgemachte scharfe Zwiebel-Tomaten-Paste, mit der man alles runterkriegt. Aber bisher gab es keinen Grund zu Beanstandungen.

Die 10 de agosto, in der das Büro von Amnesty liegt, ist ein Traum und ein Alptraum gleichzeitig. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe und von der Washington, wo ich wohne, auf die sechsspurige Straße Richtung Süden einbiege, empfängt mich schon eine schwarze Abgaswolke, deren einzelne Bestandteile förmlich in der Luft zu sehen sind. Zwei der sechs Spuren sind für den Trole reserviert, einen Oberleitungsbus, mit dem man für 25 Cent die ganze Stadt durchqueren kann. Gleichzeitig drängeln sich normale Busse, Taxis und Autos. Ich muss die 10 de agosto überqueren, was trotz eines Zebrastreifens täglich eine Sache von Leben und Tod ist. Sobald sich Anzeichen erkennen lassen, dass der Fußgänger den Gehsteig verlassen will, wird er von allen Seiten und manchmal aus einer Entfernung von mehreren hundert Metern angehupt. Stehen bleibt kein Gefährt, nicht einmal wenn sich ihm ein Hindernis in den Weg stellt.

Und trotzdem ist der tägliche Fußmarsch entlang dieser 10 de agosto immer ein Vergnügen. Zwei Unterhemden für einen Dollar oder vier Batterien zum selben Preis? Gardinen, sämtliche Sorten Bohnen, Bonbons, Schnürsenkel, Lose oder eine Gemüseraspel gefällig? Oder darf es ein gebrauchtes Handy, ein Anorak oder ein Abflussrohr sein? Je nach Wetter auch ein Regenschirm? Während die Ladenbesitzer sich gerade erst anschicken, die massiven Eisengitter vor ihren Schaufenstern hochzuschieben, sich nach und nach die Sicherheitsleute vor den Geschäften positionieren und die Verkäufer langsam den Tag beginnen, herrscht auf dem eher schmalen Gehsteig schon reger Trubel: Jeder schreit unentwegt heraus, was er anbietet, und so ergibt sich ein vielstimmiger Kanon, begleitet von Salsa aus der Anlage des CD-Verkäufers.

Ein Junge scheuert vor dem Sozialministerium verrußte Töpfe, ein paar Schritte weiter positionieren sich täglich drei Schuhputzer mit roten Holzthronen inklusive Sitzkissen für die Kunden – es sei denn, es gießt in Strömen, was in der vergangenen Woche ziemlich häufig der Fall war. Wenn nicht, dann schlängelt sich der Strom der Berufstätigen in zwei Richtungen im Slalom durch die Händler, die kein leichtes Leben haben. In Guayaquil an der Küste, Ecuadors größter Stadt, haben Polizisten vor zwei Wochen einen zwölfjährigen Jungen fast erschlagen, der Schnürsenkel verkaufte. Seither organisieren die fliegenden Händler dort Protestmärsche, Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen. Auch auf der 10 de agosto ist wie in ganz Quito immer viel Polizei zu sehen. Samstags und sonntags wirkt sie allerdings fast wie ausgestorben.


Wenn ich mich schwer schnaufend die erste Steigung der 10 de agosto hochgekämpft habe und das Amnesty-Büro einfach rechts liegen lasse und weitergehe, lande ich nach einigem bergauf und bergab in der Altstadt. Dort lässt sich der Glanz und die Dekadenz der jahrhundertelangen spanischen Herrschaft erahnen. Verschwenderisch mit Blattgold ausgestattete Kirchen, Paläste, Klöster, Patios im kolonialen Stil. Auf den Plätzen flanieren an Wochenenden nicht nur Touristen, sondern auch Familien und Paare, finden sich die eher dunklen Gestalten der Stadt genauso ein wie Anzugträger und Indios in Tracht.


Genauso bunt ist der Kern der Neustadt, die an der 10 de agosto in Richtung Norden liegt. Am Rande davon wohne ich, mittendrin liegt meine Sprachschule. Das Viertel heißt Mariscal, aber die Quiteños nennen es „Gringolandia“. Nicht zu Unrecht. Dort reiht sich Internetcafé an Reiseveranstalter an Fotoladen an Hostal. Dazwischen einfache Bars und Schuppen, in denen das Bier für einen Dollar zu haben ist, aber genauso Kneipen im europäischen Stil, in denen ein ordentliches Essen nicht unter zehn Dollar kostet. Dort kann man Unterhaltungen in sämtlichen Sprachen verfolgen, manchmal auch in Spanisch. Regelmäßiger Treffpunkt meiner Kollegen ist ein grauenhaftes Internet-Café namens „Papayanet“. Dort darf man keine Disketten in den Computer schieben, es lässt sich wegen der lauten Musik kein klarer Gedanke fassen, die Speisekarte ist komplett amerikanisch, und obendrein ist der Ort auch vergleichsweise teuer. Ich habe mir angewohnt, vor der Tür zu warten. Mehr als ein Treffpunkt, an dem man entscheidet, wo man hingeht, ist das „Papayanet“ ohnehin nicht.


Wesentlich netter ist es am Rand des Marical und direkt bei mir in der Umgebung, auch wenn die Washington keine typische Wohnstraße ist: Hier finden sich so Kuriositäten wie der „Almacen moderno: Lo más barato para Usted“ (der moderne Laden: das Billigste für Sie). Verspielte pastellfarbene Türmchen-Villen und klassisch-koloniale zweistöckige Bauten zwängen sich zwischen hohe Beton- und Glas-Türme im Stil der 60er. Da finden sich Elektro- und Lebensmittelläden, Wäschereien und Friseure. Jede Freifläche wird zum Parkplatz umfunktioniert. Und nebenbei: Eine Straße weiter habe ich ein Hostal entdeckt, das „Rincon de Bavaria“ heißt, bayerische Ecke.

Wer nun denkt, ich würde die Stadt nach fast zwei Wochen und etlichen kilometerlangen Fußmärschen kennen, der irrt allerdings. Noch weiter jenseits des kolonialen Kerns erhebt sich ein die Stadt teilender Hügel, der Panecillo, auf dem eine überlebensgroße tanzende Madonna aus Stein thront. Sie findet sich in der Kirche Sankt Franziskus in der Altstadt wieder – angeblich die einzige Darstellung einer tanzenden Madonna auf der Welt. Auf diesem Hügel jedenfalls bietet sich ein fantastischer Rundblick, der in etwa die Ausmaße Quitos erahnen lässt. Die Häuser füllen das komplette Hochtal zwischen zwei Bergrücken in Richtung Süden und Norden und erobern langsam auch die Anhöhen im Westen und Osten. Wer es genau wissen will: Angeblich ist Quito 35 Kilometer lang und fünf Kilometer breit. Es gibt also noch einiges zu entdecken.

Dienstag, 11. Mai 2004

Ankunft in Quito




Nach einem großen Teller Spagetti zum Abendessen und zwei Bier sitze ich jetzt satt und müde und bettschwer an meinem kleinen Tisch unter einer funzeligen Lampe, und aus meinem Laptop schallt eine CD mit lateinamerikanischen Schnulzen, während von der offenen Terrassentür kalte Luft, ein Nachbarsstreit, Kindergeschrei, Fernsehgeplapper, Verkehrslärm, Sirenengeheul und Hundegebell hereindringt – morgens kräht auch gerne ein Hahn, von woher auch immer. Vier Tage bin ich nun hier und – auch wenn sich das vielleicht wieder mal ändern mag – absolut glücklich.

In den ersten drei Tagen bin ich durch die Stadt gestromert und habe mich sofort in sie verliebt – obwohl sie abgesehen von der kolonialen Altstadt wirklich nicht allzu viel bietet, was man im herkömmlichen Sinne schön nennen kann; obwohl sie an vielen Ecken Elend offenbart; und obwohl die Luft so schlecht ist, dass ich nicht weiß, ob ich manchmal wegen der Höhe oder der Abgase zum Verschnaufen stehen bleiben muss. Und trotzdem ist es das, was ich spüre und rieche und höre und natürlich sehe: Es riecht in den Straßen nach gebratenem Grillfleisch und Maiskolben, aus jedem Geschäft dringt Musik, überall tollen Kinder herum, die Menschen zeigen ziemlich viel gute Laune und legen außerdem ein Tempo vor, das mich unter anderen Umständen sicherlich zur Weißglut treiben würde, mir im Moment aber eine gewisse Leichtigkeit vermittelt. Und vielleicht ist es ja auch ein bisschen mein eigener Zustand, der mir so gefällt.

Meine neue Heimat, zumindest für die nächsten Wochen, vielleicht für das nächste halbe Jahr, ist ein kleines Appartement am Rande des Viertels Mariscal eine Straße vom Park Ejido entfernt in direkter Nachbarschaft zum Wirtschaftsministerium; es liegt also direkt im Zentrum. Ich wohne hier alleine, obwohl es außer der kleinen Küche, dem Wohnraum und meinem Zimmer noch ein zweites Schlafzimmer gibt. Aber das ist im Moment nicht besetzt, und so kann ich mich über die ganzen 50 oder 60 Quadratmeter ausbreiten, was ich auch weidlich ausnutze. Meine paar Habseligkeiten, diverse Zeitungen der vergangenen Tage und ausgerissene Artikel, Disketten, CDs, Wörter- und Grammatikbücher, Papiere sind im ganzen Wohnraum verteilt, dazwischen thront eine Rose in einem Wasserglas, die mir am Muttertag ein Mädchen auf der Straße geschenkt hat. Der Kühlschrank ist inzwischen gefüllt mit Pilsener Bier (das zu kaufen meine erste Handlung sofort nach meiner Ankunft noch am Freitagabend war), einem Berg Obst, von dem ich nur in den seltensten Fällen weiß, wie es heißt, Käse aus den Anden und was man sonst so braucht. Ich habe nach langer Suche sogar ein Haushaltswarengeschäft gefunden, das italienische Espresso-Kannen verkauft, und einen Supermarkt, der Olivenöl im Regal stehen hat – wenn auch in 0,2-Liter-Flaschen. Ich besitze inzwischen ein neues Mobiltelefon, dessen Kauf fast daran gescheitert wäre, dass ich nur einen und nicht wie hier üblich zwei Nachnamen habe, und einen Adapter-Aufsatz für mein Computerkabel. Ich bin also eingerichtet.

Dass das auch so bleibt, dafür sorgen Gitter an jedem Fenster der Wohnung und an der Eingangstür inklusive massivem Schloss sowie ein 24-Stunden-Bewachungsdienst am Eingang und eine elektronische Chipkarte, ohne die ich gar nicht in das Haus komme. Die Wohnung selbst vermittelt den Charme eines eher schattigen Souterrains. Sie liegt im Erdgeschoss eines mehr als zehnstöckigen Hauses, und es gehört eine Art zementierte kleine Terrasse dazu, die aber von einer zwei oder drei Stockwerke hohen Mauer begrenzt ist. Benutzt habe ich die Terrasse tatsächlich noch gar nicht: Wenn die Sonne scheint und dann auch in dieses Viereck reinscheint, ist es zu heiß, und verbrannt habe ich mir ohnehin schon neben der Nase die Kopfhaut, weil ich nicht daran dachte, meine Kappe aufzusetzen für jeden Meter, den ich aus dem Haus gehe. Und wenn die Sonne nicht scheint, was täglich mindestens nachmittags der Fall ist, wenn die dicken, schwarzen, hohen Wolken wie Ungeheuer über die Quito eingrenzenden Berge rutschen, ist es zu kalt. Dann ziehe ich hier meine zwei mitgebrachten Pullover übereinander an und die Jacke dazu und hoffe, dass die Elektrodusche am anderen Morgen tatsächlich so lange lauwarmes Wasser ausspuckt, wie ich drunterstehe. Das ist nicht immer der Fall. Aber was man auch sagen kann: Ich fühle mich wohl in diesen Wänden, und sie haben den Vorteil, dass sie direkt zwischen Sprachschule und Amnesty International stehen, jeweils nur zehn Minuten Fußmarsch entfernt.

Und was kann man nach einem Tag dort sagen? Ich arbeite bei Amnesty nicht in der Presseabteilung. Ich bin die Presseabteilung, sie hat sich praktisch erst durch meine Ankunft zum ersten Mal seit Bestehen der Sektion in Ecuador materialisiert. So wie sich die Sektion insgesamt erst seit drei Monaten neu zu formieren beginnt. Das heißt: Mir wurde am ersten Tag eröffnet, dass ich im nächsten halben Jahr eine Presseoffensive aus dem Hut zaubern soll, damit die Organisation hier im Land erst einmal als existent wahrgenommen wird. Ich soll Kontakte zu den Medien aufbauen und außerdem und außerdem und außerdem. Vielleicht hätte ich doch lieber für einen amtierenden Pressechef nur den Kaffee gekocht. Aber wie auch immer: Das ist praktisch ein außerordentlich kompakter Grundkurs in Medienarbeit, für den andere jahrelang auf die Uni gehen. Das kann ich mir nach dem halben Jahr hier sicher sparen.

So habe ich also nach den ersten Stunden im Amnesty-Büro auf dem Weg zur Sprachschule heute erst einmal Bier-Nachschub besorgt, den in meiner Wohnung abgestellt, schnell ein bisschen Salat in mich hineingestopft, und bin dann weiter, um vier Stunden lang Grammatikübungen zu absolvieren und Spanisch zu quatschen, hinterher hier an diesem Tisch meine Hausaufgaben zu machen, nämlich zwei Aufsätze über ein beliebiges Thema in beliebiger Länge zu schreiben, was ich fortan jeden Tag machen soll. Und weil das alles noch nicht genug ist, muss ich jetzt auch noch irgendeine Fernsehsendung für Amnesty anschauen, keine Ahnung wofür, ich weiß noch nicht einmal, ob ich den Kanal reinbekomme – und wenn, ob ich auch etwas verstehe. Und dabei wollte ich ja eigentlich endlich mal keinen Stress haben. Aber wenn irgendwo nicht so heiß gegessen wie gekocht wird, dann hoffentlich hier.

Mittwoch, 5. Mai 2004

Abschied