Donnerstag, 12. Oktober 2006

Fahrt ins Unglück

Die Luft im Bus klebt. Auf den Nebensitz lässt sich ein Mann fallen, ein Baby im Arm, seine Frau quetscht sich dazu. Sie zerrt ein Kind zwischen ihre Beine, das Dritte landet auf ihrem Schoß. Zu sechst auf zwei Sitzen – verdammt eng für eine achtstündige Fahrt durch Ecuador.

Aus den Lautsprechern hinten dröhnt Latino-Hip-Hop, vorne aus dem Fernseher gellen Kampfschreie. Ein Kung-Fu-Film. An jeder Straßenecke ein Stopp, ein Raus- und Reindrängeln, und durch die verschwitzten Leiber zwängen sich die Händler mit Fleischspießen, Süßigkeiten und grellgelber Inca Cola.

Busfahren in Lateinamerika ist kontaktreich, unterhaltsam – und hochgefährlich. Bilder von zerquetschten Karosserien, dazu die Totenmeldungen – das gehört zur täglichen Routine der Zeitungen. Selbst in Kolumbien, so behaupten manche, kommen mehr Menschen bei Busunfällen um als durch den Bürgerkrieg. Die Totenzahlen gehen immer gleich in die Dutzende. So wie in Ecuador, wo jüngst bei einem der schwersten Busunglücke des Landes nahe der Hauptstadt Quito 47 Menschen gestorben sind – vier Familien aus demselben Dorf auf Ausflugsfahrt.

„Niemand kann die Leere verstehen, die ich in meiner Seele spüre”, klagt Rosa Suntaxi. Sie verlor ihre vier Kinder, zahlreiche Freunde und Verwandte bei dem Unfall. Das Unglück war bei Regen auf einer kurvigen Gebirgsstraße in den Anden passiert: Der Fahrer drückte zu sehr aufs Gas, verlor die Kontrolle, der Bus überschlug sich. Das Gefährt war 14 Jahre alt, das Bremssystem defekt, statt der erlaubten 30 saßen 52 Menschen darin. Damit sind auch schon die Hauptursachen für die häufigen Busunfälle in Lateinamerika genannt.

Auf dem Subkontinent, wo ein Großteil der Menschen von weniger als einem Dollar am Tag lebt und sich nur Reiche ein Auto leisten können, sind Überlandbusse das Transportmittel schlechthin, für Menschen, Hühner und jede Art von Gepäck. Die Preise sind moderat – eine politische Angelegenheit. Jede Erhöhung provoziert heftige Proteste, so wie im vergangenen Jahr in Nicaragua, wo Demonstranten Reifen anzündeten und Straßen blockierten. Im Gegenzug sparen viele Unternehmer an Komfort und Sicherheit. Und die chronisch klammen Länder verwenden ihr bisschen Geld eher ungern für den Straßenbau.

Beispiel Ecuador: Autobahnen gibt es in dem gebirgigen Zwergstaat zwischen Peru und Kolumbien praktisch keine. Nur ein Fünftel aller Straßen ist überhaupt geteert. Die altersschwachen Brummer zuckeln auf dem Weg von der Küste in die Hauptstadt die 2850 Höhenmeter in schmalen Windungen hinauf – wenn’s sein muss, auch mit platten Reifen.

Die Busfahrer wiederum arbeiten oft auf Kommission: Ihre Helfer hängen an der offenen Tür und fordern die Passanten an jeder Ecke mit hektischen Handbewegungen zum Einsteigen auf. Bedienen zwei Unternehmen die gleiche Strecke, streicht der mehr Geld ein, der schneller ist – und der Konkurrenz die Fahrgäste wegschnappt.

Und so fügt es sich, dass in einen solchen Bus immer noch einer reinpasst. Wenn nicht – auf dem Dach ist auch noch Platz. Das Problem verschärft sich an Wahltagen. In Ecuador zum Beispiel ist Wählen Pflicht. Und weil die meisten Hauptstädter in ihren Heimatdörfern gemeldet sind, setzt eine große Völkerwanderung ein – sicher auch bei der Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag. Wo sich eine fünfköpfige Familie an normalen Tagen anderthalb Sitzplätze teilt, passt an solchen Ausnahmewochenenden keine Maus mehr in den Wagen.

Die Busfahrer scheren sich da eher selten um die Gesetze. Aber um die Regelung ihrer Arbeitszeit schert sich ja auch keiner. Bei einer Untersuchung in Peru klagten die befragten Überlandfahrer über Dauermüdigkeit: Mehr als die Hälfte von ihnen schlief weniger als sechs Stunden pro Tag, Pause gab es für die meisten frühestens nach fünf Stunden Fahrt. Da wundert es nicht, dass jedem Dritten im Dienst schon mal die Augen zugefallen waren. Die Gegenmittel: Wasser ins Gesicht, Musik, Zigaretten, frische Luft, Kaffee, Cocablätter – und Alkohol. Ob es dann am Schlafmangel lag oder am Rum, lässt sich hinterher nur noch schlecht bestimmen, wenn die Reise am Betonmittelstreifen endete.

In jener Nacht stiegen die Fahrgäste morgens um halb fünf schlaftrunken aus dem havarierten Gefährt und warteten stumm am Straßenrand, bis jemand sie auflas. Aber nicht immer nehmen die Fahrgäste alles klaglos hin. Auf einer kurvigen Bergstrecke entlang der peruanischen Pazifikküste flogen erst Schimpfworte, dann bedrohten die Bauern den überholwütigen Fahrer körperlich: Der bremste notgedrungen und scherte wieder hinter einem 16-Tonner ein – Sekunden später rauschte aus der Gegenrichtung ein Lastwagen vorbei.