Dienstag, 29. Juni 2004

Appetit auf Meerschweinchen




Auf dem Feuer strecken sie alle Viere von sich, den gesamten Körper wie zum Absprung gespannt, und zeigen ihre spitzen Nagezähne. Gegrillte Meerschweinchen gelten in Südamerika im gesamten Andenhochland als Spezialität. So gut sie munden mögen – auf dem Rost sehen sie schauerlich aus. Noch schauerlicher aber ist die Krankheit, mit der sie in Ecuador neuerdings wieder in Verbindung gebracht werden.

Etwa 200 Kilometer von der Hauptstadt Quito entfernt sind in der Provinz Chimborazo in einem Bergdorf eine 55-Jährige und ihre 22-jährige Tochter an Beulen- und Lungenpest gestorben, nachdem sie verendete Meerschweinchen aus eigener Zucht gegessen hatten. Seither herrscht in dem kleinen Land nicht nur unter Meerschweinchen-Liebhabern Sorge. Die sonst eher klammen staatlichen Einrichtungen stellten nach den Todesfällen flugs Geld für die Region zur Verfügung: Sie verteilten Antibiotika, ließen Dörfer ausräuchern, um Ungeziefer und Ratten zu vernichten, und entwarfen rasch eine kleine Aufklärungskampagne. Unter Medizinern gilt solche Geschäftigkeit eher als Augenwischerei. Ärzte bezeichnen den neuen Ausbruch der Seuche als „Ohrfeige für Ecuadors Gesellschaft”. Die Todesfälle zeigten, dass es nach wie vor am Nötigsten fehle.


Tatsächlich gilt die Provinz Chimborazo, benannt nach dem höchsten Berg und einzigen Sechstausender Ecuadors, als ärmste des Landes: Dort bearbeiten Bergbauern mit wettergegerbten Gesichtern in Ponchos und Filzhüten ihre steilen Flächen wie vor Jahrhunderten, schleppen Lasten über windgepeitschte Hochebenen vorbei an Lamas und strohgedeckten Lehmhütten. Die Pestepidemien des vergangenen Jahrhunderts, an denen mehrere tausend Menschen starben, gingen vor allem von hier aus. Zuletzt registrierten die Behörden 1990 einen größeren Ausbruch der Seuche.

Der Erreger, das Bakterium Yersinia Pestis, wird über Flöhe von Ratten auf Menschen übertragen, eine Ansteckung ist aber auch durch infizierte Gegenstände und als Tröpfcheninfektion über die Atemwege möglich. Ohne Behandlung führt die Krankheit meist binnen Tagen zum Tod; in einigen Bergwald- und Savannengebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gilt sie als endemisch. Nach Ecuador sollen den Erreger im 16. Jahrhundert der spanische Eroberer und Schweinehirt Gonzalo Pizarro und seine Begleiter eingeschleppt haben. Der Appetit auf Meerschweinchen existierte auf dem Kontinent schon vorher: Die ehemals wild lebenden Nager fanden sich auf der Speisekarte der Inkas.


Wie die Tiere am besten zu schlachten und zuzubereiten sind, darüber gibt es verschiedene Meinungen. Eine neue Methode lieferte nun das Gesundheitsministerium Ecuadors. Ein Mitarbeiter sagte, man müsse vor dem Verzehr gegrillter Meerschweinchen nur sicherstellen, dass die Tiere in kochendem Wasser geschlachtet und gehäutet worden seien. Und der Minister selbst versicherte nach den beiden Todesfällen: „Alles ist unter Kontrolle, es gibt keine Gefahr.”

Freitag, 25. Juni 2004

Umzug



Draußen vor meinem Fenster leuchten die Lichter des Mariscal und des Viertels Gasca, das sich im Westen der Stadt den Berg hochzieht, über dem jetzt gerade die schmale Mondsichel steht. Dass ich von meinem Schreibtisch aus neuerdings einen so schönen Ausblick über die moderne Innenstadt von Quito genieße, liegt daran, dass ich am Sonntag umgezogen bin. Ich wohne jetzt im sechsten Stock eines Hauses im Mariscal in einem kleinen Appartement, das ich durch eine Zeitungsanzeige gefunden habe. Während ich in der anderen Wohnung wirklich fast erfroren bin, mich prompt eine heftige Grippe erwischt und mit Fieber niedergelegt hat, ich untertags das Licht einschalten musste und nicht einmal den Himmel sehen konnte, habe ich hier neben dem wunderbaren Ausblick auch den ganzen Nachmittag Sonne – was die Wohnung ordentlich aufheizt und mich in den schweinekalten Nächten glücklich macht. Zwar regnet es tagsüber nicht mehr, aber dafür ist jetzt der Temperaturunterschied um so größer.

Meine neue Wohnung würde ich – wenn sie europäischen Baumaßstäben entspräche – auch in München sofort nehmen. Im Gegensatz zu deutschen Großstädten ist der Mietmarkt hier ziemlich entspannt. Ein Zimmer ohne Bad und Küche in einer der gefährlicheren Gegenden ist schon für 50 Dollar zu haben. Ich habe mich nach eingehender Prüfung meiner Ausgaben und Ersparnisse und tagelanger Zeitungslektüre dann doch für die Luxusvariante eines möblierten Appartements mit Sicherheitsdienst in einem halbwegs besseren Viertel entschieden: Eine amerikanische Küche in einem großen Raum, ein Schlafzimmer und ein Bad mit funktionierender Warmwasser-Dusche. Dass ich die Wohnung bekommen habe, obwohl ich nur bis Ende Oktober bleibe, liegt daran, dass ich Ausländerin bin. Weil sich die Vermieterin von mir regelmäßige Zahlungen und wenig Ärger verspricht, ist sie sogar um 20 Prozent mit dem Preis heruntergegangen. Die Oma, die bei der Wohnungsbesichtigung mit den frisch gewaschenen Gardinen auf dem Schoss auf dem Sofa saß, sagte nicht viel. Nur ein ums andere Mal: „Que linda!“ Es bedurfte einiger Ausrufe, bis ich endlich merkte, dass sie mich damit meinte. Meine blonden Haare hatten es ihr angetan (wie auch meiner Friseurin hier).


Eigentlich müsste man meinen, ein Umzug nach sechs Wochen dürfte kein Problem sein. Tatsächlich war ich dann doch froh, dass sich meine italienische Kollegin Chiara als Helferin angeboten hatte. Neben dem Reisegepäck hatte sich nämlich doch schon einiges angesammelt: außer einer gewissen Grundausstattung an Lebensmitteln und Haufen von Zeitungsausschnitten leider auch ein Berg von schriftlichen Unterlagen und Büchern, darunter ungefähr neun Gedichtsbände, wie ich am Sonntag feststellten musste. Dabei hätte ich schwören können, dass ich höchstens drei gekauft habe! Damit ist jetzt Schluss, ohnehin sind Bücher hier mehr als irgendwo anders eine Frage des Geldes: Mein Spanisch-Spanisch-Wörterbuch für 25 Dollar, das ich nach wochenlanger Suche endlich in einem Laden in einem der amerikanisch anmutenden modernen Einkaufszentren entdeckt habe, entspricht durchschnittlich etwa einem Fünftel Monatslohn. Kein Wunder also, dass Lesen hier nicht zu den Nationalsportarten zählt.

Mein neues Heim macht mich bisher ausnahmslos glücklich, und ich hoffe, dass das auch so bleibt. Eine Nachbarin aus Belgien ein Stockwerk tiefer zieht nämlich wegen der vielen Kakerlaken aus. Bis jetzt habe ich noch keines der Tierchen entdeckt, und damit das auch so bleibt, schließe ich nun immer den Klodeckel, sperre alle Lebensmittel in den Kühlschrank, spüle jeden Abend brav mein dreckiges Geschirr ab und stelle hinterher einen schweren Topf, gefüllt mit Wasser, auf den Abfluss. Erst am vergangenen Samstag, als ich mittags meine Portion Spanferkel mit Kartoffelbrei im Markt von Santa Clara hier um die Ecke vertilgt hatte, ist mir eines dieser Viecher über den leeren Teller gelaufen. Meinem Appetit konnte das Tier da zwar nichts mehr anhaben, aber Fleisch kriege ich auch hier nicht auf die Knochen. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich immerzu beschäftigt bin. Es gibt hier so viele interessante Dinge, und für alles reicht die Zeit gar nicht. Zusätzlich zu meiner ONG habe ich nämlich eine neue Beschäftigung gefunden.


Vergangenen Samstag habe ich an einem Workshop eines linken Zwei-Wochen-Blattes teilgenommen. Dieses ist vor dreieinhalb Jahren das erste Mal erschienen, als der Protest der Indigenas hier einen Höhepunkt erreichte und schließlich zu einem Wechsel der Regierung führte. Die Zeitung namens Opción versteht sich als Sprachrohr des Widerstands und ist in dieser mehr als einfältigen ecuadorianischen Zeitungslandschaft trotz ihrer Mängel eine Wohltat. Weil die Journalisten für die Internet-Berichterstattung über das amerikanische Sozialforum, das im Juli in Quito stattfindet, zusätzlich Leute brauchen, haben sie am vergangenen Samstag im Schnellverfahren ein paar junge Studenten angelernt.

Ich selbst habe leider keine Zeit, etwas über die Veranstaltung zu schreiben, weil ich an diesen fünf Tagen bereits für Amnistía arbeiten muss, und deren Zielvorgaben sind ziemlich ehrgeizig. Mindestens fünf nationale Radiosender, zwei nationale Fernsehkanäle und zwei weitere Medien sollen über uns berichten. Dies ist angesichts der schlechten Organisation und der schlechten Planung und der Größe der Veranstaltung fast nicht zu schaffen. Deshalb habe ich zum einen jetzt angefangen, selbst einen Plan für unsere Kampagne „Stoppt Gewalt gegen Frauen“ auszuarbeiten, obwohl das eigentlich gar nicht mein Aufgabengebiet ist. Und zum anderen habe ich den Journalisten von Opción angeboten, für ihre Internetausgabe etwas über die Vorbereitungen von Amnistía zu verfassen. Wenn andere nicht über einen schreiben, muss man es halt selbst tun. Prompt stiegen die darauf ein, luden mich in die Redaktion ein, wo ich inzwischen auch war, boten mir alle Hilfe bei meinen sonstigen Recherchen an und baten mich trotz meines fehlerhaften Spanisch, für die Druckausgabe etwas Größeres über die Europäische Union zu schreiben.

Weil das zeitlich alles gar nicht zu schaffen ist, musste ich nun leider meine Sportstunden aufgeben. Dabei hätte ich Euch gerne mehr über Capuera berichtet: eine Mischung aus Tanz und Kampfsport zu Trommelmusik aus Brasilien, die mich in den vergangenen Wochen an den Rand der Verzweiflung trieb. Nicht nur, dass die Bewegungsabläufe einfach eine Spur zu kompliziert für mich sind, sondern dass ich abends auch meine Füße nicht mehr sauber bekommen habe. Zum Üben musste man seine Socken ausziehen, und das kleine Kabuff im ersten Stock eines uralten Hauses hier in der Neustadt ist wohl seit seiner Erbauung nicht mehr geputzt worden. Von Umkleide, Dusche oder gar Sauna will ich gar nicht erst sprechen.


Aber nicht dass hier der Eindruck entsteht, ich würde nur arbeiten. Bereits zweimal bin ich mit dem Bus durch das Land gefahren, und vergangenen Sonntag nach dem Umzug im Taxi sind Chiara und ich über den ersten Bergzug im Osten gelaufen, an dessen Kuppe die Stadt endet, und fanden uns auf der anderen Seite prompt in einem beschaulichen, ruhigen und abgasarmen Dorf mit Wallfahrtskirche und Franziskanerkloster wieder. Auf der Terrasse eines einfachen Wochenendlokals aßen wir mit Blick auf das Tal panierten Fisch mit Pommes und tranken dazu frisch gepressten Papayasaft, atmeten tief durch und fühlten uns angesichts der Umgebung fast wie in den Schweizer Bergen.

Sonntag, 6. Juni 2004

Großmütterchen




Nach einem späten samstäglichen Frühstück mit einem Berg Obst aus Mango, Maracuja, Banane, Guave, Melone, Papaya und Ananas sowie einem Pfirsich-Joghurt sitze ich jetzt mit einem dicken Pullover und heißem Tee der Sorte Hierba Luisa in meiner Wohnung und quäle mich mit einer Presseerklärung ab.


Hier in Quito treffen sich von Montag an die Staatschefs der „Organisation der amerikanischen Staaten“, deren Mitglieder vor zehn Jahren eine „Konvention zur Verhinderung, Bestrafung und Ausrottung von Gewalt gegen Frauen“ unterzeichnet haben, die sie bis heute nicht einhalten. Zum Jahrestag will AI Stellung nehmen, für eine Pressekonferenz reisen extra zwei Menschen aus dem Generalsekretariat in London an. Am Freitag habe ich die Einladung an Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen geschrieben, die in der zweiten Version auch abgesegnet wurde. Die erste Fassung war wieder einmal zu schnell zum Kern gekommen. In Lateinamerika überbringt man erst sämtliche Höflichkeiten, die in Deutschland gar nicht existieren, und gibt sich die Ehre... Immerhin habe ich diese Floskeln jetzt ein für alle mal in meinem Computer gespeichert.

Und nun die Erklärung für die Pressekonferenz am Mittwoch: Natürlich kämpfe ich mit der Sprache. Das eigentliche Problem ist aber, dass weder unser Director Ejecutivo Marco, also der Geschäftsführer, noch ich so genau wissen, was die Dame und der Herr aus London denn nun im Detail sagen werden. Also werde ich wieder ein paar Zitate erfinden, und hoffen, dass ich ins Schwarze treffe und sich die werten Gäste damit zufrieden geben werden.


Aber nicht, dass Ihr glaubt, der Rest der Arbeit verliefe weniger chaotisch. Fangen wir einmal bei der Einrichtung an. Wenn ich morgens um neun im Ucica-Gebäude im achten Stock an den Rechtsanwalts-Büros, die aussehen wie bessere Jugendzentrumsräume, vorbeigelaufen bin, bei Amnesty an die Tür klopfe, und Anita, die 27-jährige Sekretärin, die Sicherheitskette löst, höre ich schon das Rauschen der Dusche. Das Gebäude hat nur stundenweise Wasser, und damit das Klo nicht nur Kloake verkommt, steht unter der Dusche ein großer Plastikbottich, aus dem wir während des Tages mit einem Zwei-Liter-Messbecher Wasser zum Spülen schöpfen. Aber regelmäßig drehen die (wer immer das auch ist) den Hahn länger zu, als unser Vorrat reicht.


Das Büro besteht aus zwei Räumen, die durch Falttüren unterteilt werden können. Der Eingang, also ein Viertel des Büros, gehört Anita. Dahinter residiert Chef Marco, ein 27-jähriger Ecuadorianer. Ein halbes Zimmer beansprucht Jeremy als coordinador del staff. Der 27-jähriger Amerikaner lebt seit einigen Jahren mit einer Kolumbianerin in Ecuador, spricht nur ungern Spanisch, betreut vormittags ehrenamtlich die Voluntarios von Amnesty und verdient nachmittags sein Geld mit Englischunterricht. Das restliche Büroviertel teilt sich das Dutzend freiwilliger Helfer. Es gruppiert sich um ein Oval oder prügelt sich um den Computer aus der Vorsteinzeit an einem Katzentischchen – mancher musste auch schon mal mit dem Boden vorlieb nehmen.


Von technischem Gerät möchte ich hier nicht sprechen. Es existiert genau eine Telefonleitung, die blockiert ist, wenn Marco seine Mails abruft. Kopierer Fehlanzeige. Im Erdgeschoss am Eingang gibt es ein kleines Kabuff mit Platz für einen Kopierer und das Mädchen, das ihn bedient. Es verlangt 0,04 Cent pro Blatt und bessert sein Einkommen mit dem Verkauf von gebrannten Erdnüssen und Zigaretten auf. Über Geld für Kopien verfügt Amnesty allerdings nicht. Zum Recherchieren gehen die Voluntarios ins Internetcafé – und zahlen auch das aus eigener Tasche.

Manche der ankommenden jungen Leute aus aller Welt schreckt dieses etwas provisorische Ambiente so sehr ab, dass sie nach dem ersten Tag nicht wieder auftauchen. Aber man kann sagen: Sie bringen sich um einigen Spaß. Und außerdem: psst! Es ist natürlich streng verboten, Internas nach draußen zu tragen. Offiziell dürfen wir nicht einmal unsere Unterlagen mit nach Hause nehmen. Es gibt sehr viele schriftlich niedergelegte, aber kaum beachtete Regeln, wonach Essen am Arbeitsplatz ebenso verboten ist wie das Anbandeln zwischen den Geschlechtern. Letzteres ist angesichts eines eklatanten Frauenüberschusses allerdings auch kaum möglich.

Wie viele Voluntarios wir im Moment sind, lässt sich schwer sagen. Es kommen immer wieder neue an, andere reisen ab. Niels, ein 29-jähriger Essener, hat am Dienstag ein Vorstellungsgespräch beim Europäischen Patentamt in München. Blanka aus Prag, die unsere kleine Veranstaltung im Parque Ejido zum Weltkindertag in der vergangenen Woche organisiert hat, gönnt sich ein paar Austage und bleibt dann nicht mehr allzu lange. Sie ist schon seit November hier. Auch Sarah, eine 20-jährige Leipzigerin, hat ihre Mitarbeit beendet und sitzt gerade im Bus Richtung Kolumbien, wo sie an der Küste mit einem alternativen Leipziger Fußballclub ein Sozialprojekt aufbaut. Der 22-jährige Schotte Paul macht ohnehin nur für vier Wochen Station.


Die Französin Valery sehe ich nicht sehr oft, sie arbeitet zusätzlich bei einer Organisation, die Straßenkinder betreut. Die 24-jährige Ecuadorianerin Janette, die einen kleinen Dokumentarfilm über Gewalt gegen Frauen für Amnesty gedreht hat, taucht in der Regel nur auf Festen auf. Die anderen aus den USA, Italien, Frankreich und was weiß ich woher sind noch so neu, dass ich sie kaum mit Namen kenne.

Meine Konstanten sind die 24-jährige Französin Amelie und die 31-jährige Italienerin Chiara. Sie haben in der selben Woche angefangen wie ich. Amelie, die jedes spanische „j“ durch ein „r“ ersetzt, weil sie sich mit der kehligen Aussprache so schwer tut, überlegt nach zwei Jahren an Universitäten in Australien und Neuseeland und einem Praktikum in New York, ob sie noch ein Jahr Studium dranhängen soll. Chiara lebt seit zehn Jahren in London und denkt wie alle darüber nach, was sie macht, wenn sie nicht bald einen ordentlichen Job bekommt. Wir sehen uns nicht nur im Büro. Wir essen oft zusammen Mittag, gehen abends aus, sporteln, unternehmen an den Wochenenden Ausflüge und lachen ziemlich viel. Zum Beispiel bei der immer wieder auftauchenden Frage nach dem Alter. Ich bin mit meinem 34 Jahren der Bürodinosaurier, und Amelie nennt mich manchmal spaßeshalber „la abuelita“: das Großmütterchen.

Nicht nur das Alter unterscheidet mich von den anderen, und dass ich als einzige Erfahrung im Beruf habe. Auch mein Aufgabengebiet macht aus mir einen Sonderfall. Während die anderen in kleinen Gruppen versuchen, im luftleeren Raum unter sich ständig ändernden Vorgaben Kampagnen mit Inhalt und Veranstaltungen zu füllen, habe ich in den vergangenen vier Wochen einen Zwei-Jahres-Plan für den Aufbau der Pressearbeit und eine Beschreibung meiner eigenen Funktion als „coordinador nacional de prensa“ (nicht lachen: das ist so was wie nationaler Pressechef!) ausgearbeitet: Aufbau von Büroorganisation, Presseverteiler, Internetauftritt und Archiv, Vernetzung von lokalen AI-Gruppen, Büro in Quito und Sekretariat in London sowie Anleitung für Pressearbeit bei Veranstaltungen, alles inklusive Zeitrahmen, Kosten und Verantwortlichkeiten. Auf Spanisch natürlich. Dass das so lange gedauert hat, liegt vornehmlich an Jeremy. Irgendeiner seiner Schüler, Manager einer großen Firma, hat ihm mal von einer bestimmten Sorte Planung erzählt. Jeremy ist wie ein kleiner Junge davon so begeistert, dass er alles in einer standardisierten Form einfordert, weshalb ich mich länger mit dem Tabellenprogramm in Word als mit den Inhalten beschäftigt habe. Aber nun weiß ich auch, wie dieses Ding funktioniert, und die Planung steht. Wie das aber mit der Umsetzung aussieht angesichts des latenten Geldmangels hier...