Sonntag, 6. Juni 2004

Großmütterchen




Nach einem späten samstäglichen Frühstück mit einem Berg Obst aus Mango, Maracuja, Banane, Guave, Melone, Papaya und Ananas sowie einem Pfirsich-Joghurt sitze ich jetzt mit einem dicken Pullover und heißem Tee der Sorte Hierba Luisa in meiner Wohnung und quäle mich mit einer Presseerklärung ab.


Hier in Quito treffen sich von Montag an die Staatschefs der „Organisation der amerikanischen Staaten“, deren Mitglieder vor zehn Jahren eine „Konvention zur Verhinderung, Bestrafung und Ausrottung von Gewalt gegen Frauen“ unterzeichnet haben, die sie bis heute nicht einhalten. Zum Jahrestag will AI Stellung nehmen, für eine Pressekonferenz reisen extra zwei Menschen aus dem Generalsekretariat in London an. Am Freitag habe ich die Einladung an Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen geschrieben, die in der zweiten Version auch abgesegnet wurde. Die erste Fassung war wieder einmal zu schnell zum Kern gekommen. In Lateinamerika überbringt man erst sämtliche Höflichkeiten, die in Deutschland gar nicht existieren, und gibt sich die Ehre... Immerhin habe ich diese Floskeln jetzt ein für alle mal in meinem Computer gespeichert.

Und nun die Erklärung für die Pressekonferenz am Mittwoch: Natürlich kämpfe ich mit der Sprache. Das eigentliche Problem ist aber, dass weder unser Director Ejecutivo Marco, also der Geschäftsführer, noch ich so genau wissen, was die Dame und der Herr aus London denn nun im Detail sagen werden. Also werde ich wieder ein paar Zitate erfinden, und hoffen, dass ich ins Schwarze treffe und sich die werten Gäste damit zufrieden geben werden.


Aber nicht, dass Ihr glaubt, der Rest der Arbeit verliefe weniger chaotisch. Fangen wir einmal bei der Einrichtung an. Wenn ich morgens um neun im Ucica-Gebäude im achten Stock an den Rechtsanwalts-Büros, die aussehen wie bessere Jugendzentrumsräume, vorbeigelaufen bin, bei Amnesty an die Tür klopfe, und Anita, die 27-jährige Sekretärin, die Sicherheitskette löst, höre ich schon das Rauschen der Dusche. Das Gebäude hat nur stundenweise Wasser, und damit das Klo nicht nur Kloake verkommt, steht unter der Dusche ein großer Plastikbottich, aus dem wir während des Tages mit einem Zwei-Liter-Messbecher Wasser zum Spülen schöpfen. Aber regelmäßig drehen die (wer immer das auch ist) den Hahn länger zu, als unser Vorrat reicht.


Das Büro besteht aus zwei Räumen, die durch Falttüren unterteilt werden können. Der Eingang, also ein Viertel des Büros, gehört Anita. Dahinter residiert Chef Marco, ein 27-jähriger Ecuadorianer. Ein halbes Zimmer beansprucht Jeremy als coordinador del staff. Der 27-jähriger Amerikaner lebt seit einigen Jahren mit einer Kolumbianerin in Ecuador, spricht nur ungern Spanisch, betreut vormittags ehrenamtlich die Voluntarios von Amnesty und verdient nachmittags sein Geld mit Englischunterricht. Das restliche Büroviertel teilt sich das Dutzend freiwilliger Helfer. Es gruppiert sich um ein Oval oder prügelt sich um den Computer aus der Vorsteinzeit an einem Katzentischchen – mancher musste auch schon mal mit dem Boden vorlieb nehmen.


Von technischem Gerät möchte ich hier nicht sprechen. Es existiert genau eine Telefonleitung, die blockiert ist, wenn Marco seine Mails abruft. Kopierer Fehlanzeige. Im Erdgeschoss am Eingang gibt es ein kleines Kabuff mit Platz für einen Kopierer und das Mädchen, das ihn bedient. Es verlangt 0,04 Cent pro Blatt und bessert sein Einkommen mit dem Verkauf von gebrannten Erdnüssen und Zigaretten auf. Über Geld für Kopien verfügt Amnesty allerdings nicht. Zum Recherchieren gehen die Voluntarios ins Internetcafé – und zahlen auch das aus eigener Tasche.

Manche der ankommenden jungen Leute aus aller Welt schreckt dieses etwas provisorische Ambiente so sehr ab, dass sie nach dem ersten Tag nicht wieder auftauchen. Aber man kann sagen: Sie bringen sich um einigen Spaß. Und außerdem: psst! Es ist natürlich streng verboten, Internas nach draußen zu tragen. Offiziell dürfen wir nicht einmal unsere Unterlagen mit nach Hause nehmen. Es gibt sehr viele schriftlich niedergelegte, aber kaum beachtete Regeln, wonach Essen am Arbeitsplatz ebenso verboten ist wie das Anbandeln zwischen den Geschlechtern. Letzteres ist angesichts eines eklatanten Frauenüberschusses allerdings auch kaum möglich.

Wie viele Voluntarios wir im Moment sind, lässt sich schwer sagen. Es kommen immer wieder neue an, andere reisen ab. Niels, ein 29-jähriger Essener, hat am Dienstag ein Vorstellungsgespräch beim Europäischen Patentamt in München. Blanka aus Prag, die unsere kleine Veranstaltung im Parque Ejido zum Weltkindertag in der vergangenen Woche organisiert hat, gönnt sich ein paar Austage und bleibt dann nicht mehr allzu lange. Sie ist schon seit November hier. Auch Sarah, eine 20-jährige Leipzigerin, hat ihre Mitarbeit beendet und sitzt gerade im Bus Richtung Kolumbien, wo sie an der Küste mit einem alternativen Leipziger Fußballclub ein Sozialprojekt aufbaut. Der 22-jährige Schotte Paul macht ohnehin nur für vier Wochen Station.


Die Französin Valery sehe ich nicht sehr oft, sie arbeitet zusätzlich bei einer Organisation, die Straßenkinder betreut. Die 24-jährige Ecuadorianerin Janette, die einen kleinen Dokumentarfilm über Gewalt gegen Frauen für Amnesty gedreht hat, taucht in der Regel nur auf Festen auf. Die anderen aus den USA, Italien, Frankreich und was weiß ich woher sind noch so neu, dass ich sie kaum mit Namen kenne.

Meine Konstanten sind die 24-jährige Französin Amelie und die 31-jährige Italienerin Chiara. Sie haben in der selben Woche angefangen wie ich. Amelie, die jedes spanische „j“ durch ein „r“ ersetzt, weil sie sich mit der kehligen Aussprache so schwer tut, überlegt nach zwei Jahren an Universitäten in Australien und Neuseeland und einem Praktikum in New York, ob sie noch ein Jahr Studium dranhängen soll. Chiara lebt seit zehn Jahren in London und denkt wie alle darüber nach, was sie macht, wenn sie nicht bald einen ordentlichen Job bekommt. Wir sehen uns nicht nur im Büro. Wir essen oft zusammen Mittag, gehen abends aus, sporteln, unternehmen an den Wochenenden Ausflüge und lachen ziemlich viel. Zum Beispiel bei der immer wieder auftauchenden Frage nach dem Alter. Ich bin mit meinem 34 Jahren der Bürodinosaurier, und Amelie nennt mich manchmal spaßeshalber „la abuelita“: das Großmütterchen.

Nicht nur das Alter unterscheidet mich von den anderen, und dass ich als einzige Erfahrung im Beruf habe. Auch mein Aufgabengebiet macht aus mir einen Sonderfall. Während die anderen in kleinen Gruppen versuchen, im luftleeren Raum unter sich ständig ändernden Vorgaben Kampagnen mit Inhalt und Veranstaltungen zu füllen, habe ich in den vergangenen vier Wochen einen Zwei-Jahres-Plan für den Aufbau der Pressearbeit und eine Beschreibung meiner eigenen Funktion als „coordinador nacional de prensa“ (nicht lachen: das ist so was wie nationaler Pressechef!) ausgearbeitet: Aufbau von Büroorganisation, Presseverteiler, Internetauftritt und Archiv, Vernetzung von lokalen AI-Gruppen, Büro in Quito und Sekretariat in London sowie Anleitung für Pressearbeit bei Veranstaltungen, alles inklusive Zeitrahmen, Kosten und Verantwortlichkeiten. Auf Spanisch natürlich. Dass das so lange gedauert hat, liegt vornehmlich an Jeremy. Irgendeiner seiner Schüler, Manager einer großen Firma, hat ihm mal von einer bestimmten Sorte Planung erzählt. Jeremy ist wie ein kleiner Junge davon so begeistert, dass er alles in einer standardisierten Form einfordert, weshalb ich mich länger mit dem Tabellenprogramm in Word als mit den Inhalten beschäftigt habe. Aber nun weiß ich auch, wie dieses Ding funktioniert, und die Planung steht. Wie das aber mit der Umsetzung aussieht angesichts des latenten Geldmangels hier...

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