Freitag, 29. Dezember 2006

Mit dem Rücken zur Wand

Roberto setzt sich noch heute niemals in einem Lokal mit dem Rücken zum Raum. Der 43-Jährige achtet immer darauf, sämtliche Ausgänge im Blick zu haben. Er wechselt alle paar Monate die Wohnung. Fragen nach seiner Biographie weicht er aus, und Roberto ist auch nicht sein richtiger Name. Bruchstücke seiner Vergangenheit gibt er höchstens in sentimentalen Momenten nächtens in Kaschemmen preis. Dort pflegt er seine Traumata mit all den Liedern der kubanischen Barden Silvio Rodriguez und Pablo Milanes oder der nicaraguanischen Revolutionssänger Luis Enrique und Carlos Mejia Godoy. So hält Roberto die Erinnerung an seinen ermordeten Vater und an die toten Freunde aufrecht. Quält sich dann mit der einen Frage: Wieso habe ich überlebt? Wozu?

Vor zehn Jahren, am 29. Dezember 1996, beendete ein Friedensvertrag zwischen linken Guerillagruppen und der regierenden Oligarchie den Bürgerkrieg im mittelamerikanischen Guatemala. Er hatte 36 Jahre gedauert und war der blutigste in Lateinamerika. Eine von den UN finanzierte Wahrheitskommission dokumentierte den Horror auf 3400 Seiten: eine Million Flüchtlinge, 200 000 Tote, 45 000 Verschwundene. Mehr als 90 Prozent der Verbrechen hatten Polizei, Angehörige des staatlichen Militärs und ihre Todesschwadronen begangen.
Die Ursachen des Gemetzels sind auch heute nicht beseitigt. Die Nachfahren der Mayas, zu denen sich eine Mehrheit der Guatemalteken zählt, sind immer noch vom politischen und sozialen Leben ausgeschlossen. In den Hochlanddörfern können die meisten weder lesen noch schreiben. Ein Großteil der 13 Millionen Menschen lebt von weniger als einem Dollar pro Tag, viele hungern. Die Wirtschaft liegt danieder. Mehr als eine Million Guatemalteken sind ausgewandert.

Dabei hätte der Friedensvertrag ein Neuanfang sein können. Auch Robertos Hoffnungen waren groß. Der Guerillakämpfer war während des Bürgerkriegs aus dem Land geflohen, lebte in
Nicaragua, Kuba und im mexikanischen Chiapas. 1996 legte er die Waffen nieder und kehrte wie viele Flüchtlinge in die Heimat zurück. Damals sah er nach sechs Jahren seine Frau und seinen Sohn wieder. Seinen weiteren Kindern gab er Namen wie Victoria und Inti – Sieg und Sonne. Aber er wartete vergeblich auf Sieg und Sonne und ertränkte die Enttäuschung eine Zeitlang im Alkohol.

Die Frustration, die Roberto mit vielen seiner Landsleute teilt, kann Juan Ramón Ruiz verstehen. Der Politologe beobachtet für die guatemaltekische Menschenrechtsbehörde die Umsetzung der Friedensverträge. Ruiz zieht ein ernüchterndes Fazit: Nach zehn Jahren ist nicht einmal ein Fünftel der Vereinbarungen über den Aufbau einer gerechten und demokratischen Gesellschaft verwirklicht worden. „Es fehlt am politischen Willen zur Lösung der Probleme”, sagt er.

Dabei hatte schon einmal einer, in den fünfziger Jahren, versucht, die feudal strukturierte frühere spanische Kolonie zu erneuern. Der demokratisch gewählte Präsident Jacobo Arbenz Guzmán wurde jedoch rasch durch US-finanzierte Putschisten vertrieben, die sofort alle Reformen stoppten. So ist die Landfrage bis heute nicht gelöst: Immer noch besitzt eine reiche europäisch-stämmige Minderheit fast den gesamten fruchtbaren Boden. Aber viel Land liegt brach.

So, wie in der Umgebung der Kleinstadt Morales im Bezirk Izabal im Osten des Landes. In dem breiten Tal zwischen zwei Gebirgszügen nahe der Karibikküste kämpfen sieben Gemeinden um Grund zum Anbau von Mais und Bohnen. Die landlosen Bauern essen Tortilla mit Salz, morgens, mittags, abends. Sie sitzen mit Cowboyhut über den hageren Gesichtern auf dem Dorfplatz und berichten von den Versuchen, brachliegende Ländereien zu besetzen und mit Hilfe eines staatlichen Kreditfonds zu kaufen. Mehr als zwei Dutzend ihrer Angehörigen wurden bei diesem Kampf in den vergangenen Jahren ermordet. In den meisten Fällen gibt es Zeugen, wurde Anzeige erstattet. Es kam nicht zu einem einzigen Prozess. Gerade einmal zwei Haftbefehle wurden ausgeschrieben – und nie ausgeführt.

Während des Bürgerkriegs waren es staatliche Schergen gewesen, die ganze Dörfer auslöschten, weil sie die Einwohner verdächtigten, der Guerilla zuzuarbeiten. Ein am Tisch geplanter Genozid. „Heute geht die Gewalt nicht mehr vom Staat aus, aber der kann die persönliche Sicherheit nicht garantieren”, sagt Ruiz von der Menschenrechtsbehörde. Als jedoch die Vereinten Nationen vor wenigen Jahren eine Kommission einrichten wollten, um die illegalen Strukturen im Land, die Verbindungen zwischen dem organisierten Verbrechen, jugendlichen Banden, Menschen-, Waffen- und Drogenhändlern, früheren Geheimdienstmitarbeitern, privaten Sicherheitsdiensten und dem Militär zu untersuchen, lehnte das guatemaltekische Parlament ab.

Darin saß bis vor kurzem auch der Ex-Diktator Efrain Rios Montt. Unter seiner Herrschaft in den achtziger Jahren waren die grausamsten Bürgerkriegsverbrechen begangen worden. Wie Rios Montt blieben bisher so gut wie alle Täter unbehelligt. Zwar hat sich die heutige Regierung unter Präsident Oscar Berger für die Verbrechen während des Bürgerkriegs entschuldigt und will erstmals Entschädigungen an die Opfer zahlen. Aber die leiden weiter. Still. „Das Schweigen frisst dich von innen auf”, sagt Rosalina Tuyuc, die den nationalen Entschädigungsfonds und die Witwenorganisation des Landes leitet. Kein Wunder, dass Psychiater Edgar Vasquez Trujillo feststellt: „In unserem Land gibt es eine Epidemie von psychischen Störungen.” Ein Drittel der Guatemalteken hat Depressionen, Schätzungen zufolge benötigen 80 Prozent psychologische Hilfe.

So wie Roberto. Er war zwölf damals, als sie seinen Vater umbrachten. Der Sohn wollte ihn rächen und schloss sich noch als Halbwüchsiger dem Widerstand an. Als Studentenführer erlebte er, wie seine Kommilitonen plötzlich verschwanden und dann wieder auftauchten; tot und mit Folterspuren. Als er an der Reihe war, brachte ihn eine Menschenrechtsorganisation außer Landes.

„Drei für 25”, ruft Roberto in der Kneipe dem Barden zu und kramt in seiner Hosentasche nach den Quetzal-Scheinen für die drei bestellten Lieder. Der alte Mann rückt seine Gitarre über den krummen Schultern zurecht und zupft die ersten Töne. Roberto nickt, schließt die Augen und fängt an zu singen: „Ich werde in mein Dorf zurückkehren, wenn meine Kinder, denen ich immer von der Sonne erzählte, groß sind.” An den Nachbartischen haben sie aufgehört zu reden. Sie nicken. Roberto singt weiter: „Ich werde in mein Dorf zurückkehren, voll Hoffnung und mit großen Händen zum Arbeiten.” Als sich seine Augen wieder zu schmalen Schlitzen öffnen, glänzt auf beiden Wangen eine dünne Tränenspur.

Donnerstag, 12. Oktober 2006

Fahrt ins Unglück

Die Luft im Bus klebt. Auf den Nebensitz lässt sich ein Mann fallen, ein Baby im Arm, seine Frau quetscht sich dazu. Sie zerrt ein Kind zwischen ihre Beine, das Dritte landet auf ihrem Schoß. Zu sechst auf zwei Sitzen – verdammt eng für eine achtstündige Fahrt durch Ecuador.

Aus den Lautsprechern hinten dröhnt Latino-Hip-Hop, vorne aus dem Fernseher gellen Kampfschreie. Ein Kung-Fu-Film. An jeder Straßenecke ein Stopp, ein Raus- und Reindrängeln, und durch die verschwitzten Leiber zwängen sich die Händler mit Fleischspießen, Süßigkeiten und grellgelber Inca Cola.

Busfahren in Lateinamerika ist kontaktreich, unterhaltsam – und hochgefährlich. Bilder von zerquetschten Karosserien, dazu die Totenmeldungen – das gehört zur täglichen Routine der Zeitungen. Selbst in Kolumbien, so behaupten manche, kommen mehr Menschen bei Busunfällen um als durch den Bürgerkrieg. Die Totenzahlen gehen immer gleich in die Dutzende. So wie in Ecuador, wo jüngst bei einem der schwersten Busunglücke des Landes nahe der Hauptstadt Quito 47 Menschen gestorben sind – vier Familien aus demselben Dorf auf Ausflugsfahrt.

„Niemand kann die Leere verstehen, die ich in meiner Seele spüre”, klagt Rosa Suntaxi. Sie verlor ihre vier Kinder, zahlreiche Freunde und Verwandte bei dem Unfall. Das Unglück war bei Regen auf einer kurvigen Gebirgsstraße in den Anden passiert: Der Fahrer drückte zu sehr aufs Gas, verlor die Kontrolle, der Bus überschlug sich. Das Gefährt war 14 Jahre alt, das Bremssystem defekt, statt der erlaubten 30 saßen 52 Menschen darin. Damit sind auch schon die Hauptursachen für die häufigen Busunfälle in Lateinamerika genannt.

Auf dem Subkontinent, wo ein Großteil der Menschen von weniger als einem Dollar am Tag lebt und sich nur Reiche ein Auto leisten können, sind Überlandbusse das Transportmittel schlechthin, für Menschen, Hühner und jede Art von Gepäck. Die Preise sind moderat – eine politische Angelegenheit. Jede Erhöhung provoziert heftige Proteste, so wie im vergangenen Jahr in Nicaragua, wo Demonstranten Reifen anzündeten und Straßen blockierten. Im Gegenzug sparen viele Unternehmer an Komfort und Sicherheit. Und die chronisch klammen Länder verwenden ihr bisschen Geld eher ungern für den Straßenbau.

Beispiel Ecuador: Autobahnen gibt es in dem gebirgigen Zwergstaat zwischen Peru und Kolumbien praktisch keine. Nur ein Fünftel aller Straßen ist überhaupt geteert. Die altersschwachen Brummer zuckeln auf dem Weg von der Küste in die Hauptstadt die 2850 Höhenmeter in schmalen Windungen hinauf – wenn’s sein muss, auch mit platten Reifen.

Die Busfahrer wiederum arbeiten oft auf Kommission: Ihre Helfer hängen an der offenen Tür und fordern die Passanten an jeder Ecke mit hektischen Handbewegungen zum Einsteigen auf. Bedienen zwei Unternehmen die gleiche Strecke, streicht der mehr Geld ein, der schneller ist – und der Konkurrenz die Fahrgäste wegschnappt.

Und so fügt es sich, dass in einen solchen Bus immer noch einer reinpasst. Wenn nicht – auf dem Dach ist auch noch Platz. Das Problem verschärft sich an Wahltagen. In Ecuador zum Beispiel ist Wählen Pflicht. Und weil die meisten Hauptstädter in ihren Heimatdörfern gemeldet sind, setzt eine große Völkerwanderung ein – sicher auch bei der Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag. Wo sich eine fünfköpfige Familie an normalen Tagen anderthalb Sitzplätze teilt, passt an solchen Ausnahmewochenenden keine Maus mehr in den Wagen.

Die Busfahrer scheren sich da eher selten um die Gesetze. Aber um die Regelung ihrer Arbeitszeit schert sich ja auch keiner. Bei einer Untersuchung in Peru klagten die befragten Überlandfahrer über Dauermüdigkeit: Mehr als die Hälfte von ihnen schlief weniger als sechs Stunden pro Tag, Pause gab es für die meisten frühestens nach fünf Stunden Fahrt. Da wundert es nicht, dass jedem Dritten im Dienst schon mal die Augen zugefallen waren. Die Gegenmittel: Wasser ins Gesicht, Musik, Zigaretten, frische Luft, Kaffee, Cocablätter – und Alkohol. Ob es dann am Schlafmangel lag oder am Rum, lässt sich hinterher nur noch schlecht bestimmen, wenn die Reise am Betonmittelstreifen endete.

In jener Nacht stiegen die Fahrgäste morgens um halb fünf schlaftrunken aus dem havarierten Gefährt und warteten stumm am Straßenrand, bis jemand sie auflas. Aber nicht immer nehmen die Fahrgäste alles klaglos hin. Auf einer kurvigen Bergstrecke entlang der peruanischen Pazifikküste flogen erst Schimpfworte, dann bedrohten die Bauern den überholwütigen Fahrer körperlich: Der bremste notgedrungen und scherte wieder hinter einem 16-Tonner ein – Sekunden später rauschte aus der Gegenrichtung ein Lastwagen vorbei.

Freitag, 24. Februar 2006

Costa Rica in Bildern

San José

Fliegende Tiere






Kaffee








Strand



Abenteuer für gestresste Touristen





Donnerstag, 23. Februar 2006

Rest der Revolte

Einen Stadtplan? Die Frau blickt verstört von ihrem Waschzuber auf. Nein, damit kann sie nicht aushelfen. Sie schreit nach einem ihrer Kinder in dem zugestellten und überdachten Durchgang, der gleichzeitig als Küche, Bad, Trockenraum, Fernsehecke, Kinderzimmer und Eingang zu den fensterlosen Hotelzimmern dient. Eine Buchhandlung? Sie schaut kurz von der Waschbrühe auf, in der sie Babywindeln schrubbt. Ein verständnisloser Blick. Nein, Buchhandlung weiß sie auch keine. Auf der frisch geduschten Haut ihres Pensionsgastes beginnt sich in der schwülen Hitze schon wieder ein Schmierfilm aus Schweiß zu bilden, da ruft sie ihm in die Schmachtfetzen der morgendlichen Telenovela noch etwas hinterher: das Einkaufszentrum, das Plaza Inter, ein Häuserblock zum See, sechs nach Osten. Sie fuchtelt mit den nassen Händen in eine unbestimmte Richtung. Oh mein Gott. Wo ist der See? Wo ist Osten? Wo bin ich hier?

Für Neulinge ist Nicaraguas Hauptstadt Managua ein Albtraum. Und daraus gibt es auch mit einem Stadtplan kein Erwachen – wenn überhaupt einer aufzutreiben ist. Straßennamen existieren nicht. Von dort, wo einmal das Kino Dorado stand, sollen es drei Häuserblocks zum See, zwei nach Westen und ein halber nach Süden sein – eine normale Adressenangabe. Dumm nur, dass der Ort, an dem früher das Kino stand, im Stadtplan nicht als solcher auftaucht, genauso wenig wie andere geheimnisvolle Orientierungspunkte. Es gibt sie nicht mehr, seit das Erdbeben von 1972 die mittelamerikanische Hauptstadt verwüstete.

Und überhaupt: Wo ist der See? Neuankömmlingen bleibt bei der Adressensuche nur ein Taxi. Fahrgäste sollten sich aber nicht wundern, wenn erstens im Auto schon drei Passagiere sitzen, die zuerst abgeliefert werden. Wenn zweitens der Preis von 20 Cordoba (etwa ein Euro) vorher zu entrichten ist, damit der Fahrer tanken kann – ein paar Tropfen für exakt 20 Cordoba. Wenn dieser dann, drittens, versucht, seinen Kunden zum Protestantismus zu bekehren, während ein Radioprediger in voller Lautstärke von der Liebe Christi salbadert. Und wenn der Fahrer viertens an der übernächsten Straßenecke einem Passanten durch das Autofenster die Frage zuruft, die Orientierungslose durch die ganze Stadt verfolgt: In welcher Himmelsrichtung liegt hier der See?

Ja, wo liegt er nun, der See? Wenn Reisende endlich am Ufer stehen, am Rand des Stadtzentrums, wo früher sonntags Dienstmädchen spazierten und flirteten, beginnen sie zu verstehen, dass diese Frage – die Orientierung einmal ausgenommen – vollkommen unerheblich ist. Von der Uferpromenade ist praktisch nichts und vom Zentrum nur eine halb verfallene Kathedrale übrig; außerdem das Nationaltheater, das frühere Parlament und Brachflächen, die bis heute niemand bebaut hat – wenn man mal vom neuen Präsidentenpalast absieht. Baden kann man im Managua-See ohnehin nicht. Die Wasserqualität überleben schon die Fische nicht.

Managua ist keine Stadt zum Besichtigen von Sehenswürdigkeiten. Höchstens Linksnostalgiker dürften ihren Gefallen finden an den Überbleibseln der sandinistischen Revolution. Die bereitete vor 26 Jahren einem diktatorischen Familienclan sein Ende, wurde 1990, nach einem zermürbenden Bürgerkrieg gegen die von den USA finanzierten Contras, durch Wahlen in die Knie gezwungen und versucht seither vergeblich, auf demokratische Weise an ihre einstigen Erfolge anzuknüpfen.

Von denen zeugen ein paar Überbleibsel auf einem Hügel inmitten Managuas: Zwei verrostende Panzer und eine Statue des Namenspatrons Augusto Cesar Sandino, eines Minenarbeiters, der Anfang des vergangenen Jahrhunderts den bewaffneten Aufstand gegen die nordamerikanischen Besatzer anführte und 1934 hinterhältig ermordet wurde. Vom Hügel bietet sich ein schöner Blick auf die Weitläufigkeit der Stadt, ihren See, viel Grün und einen mit Wasser gefüllten Vulkankrater, die Laguna de Tiscapa.

Managuas Schönheit ist eher herb; sie offenbart sich dem, der sich treiben lässt: zum Straßenverkäufer, der schwarz kopierte CDs mit Revolutionsliedern und dazu gleich seine eigenen Erlebnisse feilbietet; im Gewusel des größten zentralamerikanischen Marktes, des Mercado Oriental, der für sich gesehen schon ein Stadtteil ist und in dessen verrufenen Kern sich sogar manche Nicas nicht hineintrauen; an die Fritanga-Buden, die aus schwarz verkrusteten Blecheimern tatsächlich Essbares zaubern.

Oder ins Nachtleben: In eine Bar am Rande eines städtischen Kreisverkehrs, in der sich Mariachi-Musiker ein Zubrot verdienen und sich vornehmlich männliche Gäste mit Rum und Cola bis zum nächsten Morgen retten. In eine der überdachten und vergitterten Freiluft-Kneipen im Stadtteil Bolonia, wo Journalisten bei vielen Litern Bier an blanken Resopaltischen Berufstratsch weitergeben und die Tatsache feiern, dass sie sich wegen politischer Differenzen nicht mehr gleich niederschießen. In eine der Salsa-Diskotheken, natürlich, auch die gibt es.

Einkaufszentren im nordamerikanischen Stil schießen aus dem Boden, üblicherweise mit einer Etage Fast-Food-Restaurants, die ohnehin jede größere Kreuzung markieren. Besserverdienende heben ihr Geld am Drive-in-Schalter ab. Wer kann, verbringt die Wochenenden am Meer. Wenn der See nichts hergibt, dann wenigsten die See. Welche? Die karibische ist von der Hauptstadt aus nur durch logistische Höchstleistung oder im Flugzeug zu erreichen. Also die pazifische. Lieblingsausflugsziel der Nicas, besonders zu Ostern ist das kleine Nest San Juan del Sur.

Wer in der Hauptstadt, wie die große Masse, vom Mercado Roberto Huembes im ausrangierten US-Schulbus dorthin aufbricht, wird auf dem schmalen Bänkchen kaum den Platz finden, auch nur seinen Blick auf die draußen vorbeiziehende Landschaft zu wenden; geschweige denn in seinen Hosentaschen nach dem Fahrgeld zu kramen, das der nach hinten durch die Leiber turnende Busbegleiter verlangt. Da ist es dann doppelt schön, wenn man Freunde mit einem eigenen Auto gefunden hat. Darin genießt man die Bewegungsfreiheit und trällert die inoffizielle Nationalhymne mit. „Ay Nicaragua, kleines Nicaragua, schönste Blume meiner Liebe“, singt Carlos Mejia Godoys zu Recht.

So herb sich die Hauptstadt gibt, so lieblich präsentiert sich das Land. Auf der Strecke in das Fischerdorf San Juan del Sur im äußersten Südosten wartet es auch noch mit touristischen Höhepunkten auf: Masaya, wo der Held Sandino geboren wurde, mit dem Vulkan, dem Kratersee und dem Naturpark gleichen Namens. Oder der gemütlichen Kolonialstadt Granada am Ufer des Nicaraguasees mit seinen Inselgrüppchen und der Vulkaninsel Ometepe.

Zwischen den touristischen Stationen lohnt ein Stopp an einer Imbissbude mit gekochten oder gegrillten Maiskolben, frischem Obst oder warmen Tortillas mit Sahne-Zwiebel-Füllung. Eine schwere, feuchte Schwüle vertreibt die Klimaanlagenluft aus den Lungen, die Milch der Kokusnuss löscht den Durst. Am Straßenrand oder auf einem Dorfplatz entzündet sich schnell einmal eine Debatte über die Neugestaltung der Ortsmitte, den Sinn von Entwicklungshilfe, die Pflanzenvielfalt des Landes oder seine Probleme.

Politisch und sozial liegt vieles im Argen. Einige wenige genießen unglaublichen Reichtum, die Masse aber schlägt sich mit weniger als einem Dollar pro Tag durch. Die großen Parteien üben sich in Posten- und Pöstchengeschachere, der Politikbetrieb lebt von der Korruption, die Auslandsschulden ersticken alle Bemühungen um Besserung.

In einem der weißen Dörfer bei Masaya leuchtet das frisch gemalte Porträt von Sandino von einer Hausmauer. Ein kleiner stämmiger Mann kommt aus der Tür, holt zu einem Vortrag über die Wahlkampfstrategie der Sandinisten aus und schwärmt: „In Nicaragua muss niemand verhungern.“ Letztlich landet aber auch der Dorffunktionär bei den Realitäten. „Die Bauern“, sagt er dann, „die bekommen doch heute fast kein Geld mehr für ihren Mais, ihre Bohnen, ihren Kaffee.“

Das lässt sich ein paar Kilometer weiter beobachten. Dort wurde die Bushaltestelle vor dem Friedhof zum Kaffeemarkt umfunktioniert. Bauern verkaufen am Straßenrand ihre Ernte an Zwischenhändler. Die lassen Bohnen aus den Plastiksäcken in einen Holzkasten schütten, um Maß zu nehmen. Pro Holzkasten ein Pfund Bohnen, pro Pfund Bohnen 25 Cordoba. Auf 40 Säcke schätzt der Bauer seine Ernte in diesem Jahr. Zufrieden setzt er sich in seinen demolierten Pick-up und rumpelt über die schlaglochübersäte Straße davon. Aber die wenigsten haben wie er ihren eigenen Grund und Boden, viele schlagen sich als Tagelöhner durch.

Davon ist am Ziel der Reise, in San Juan del Sur, wenig zu merken. Der schmucke Ort mit einer Hand voll Herbergen, Geschäften, zwei Internet-Cafés und einem kleinen Markt ist gerade dabei, sich zu einem feinen Touristenziel zu mausern. An der einfachen Strandpromenade werben luftige Restaurants mit Fischgerichten, abends lädt die Bar zu einem stimmungsvollen Ron Añejo, an Wochenenden vergnügen sich Dorfjugend und Besucher aus der Hauptstadt bei Reggaeton in der Freiluftdisko. Und neuerdings legen im Ort sogar Kreuzfahrtschiffe an.

Von der Professionalität des nur wenige Kilometer entfernten Nachbarstaates Costa Rica, in jeder Beziehung der Streber des Isthmus, ist man hier im Dorf allerdings noch weit entfernt – wie in ganz Nicaragua. Auf der anderen Seite der Grenze gibt es Adventure-Parks, in denen ein ehemaliger Fleischbaron 200 000 neue Bäume pflanzen ließ, von US-Investoren organisierte Wasserfalltouren, in denen die Begegnung mit Kolibris nicht dem Zufall überlassen wird, und ein von ausländischen Partnern finanziertes Institut, das darauf hinarbeitet, dass die Ökologie nicht den ökonomischen Interessen geopfert wird.

In San Juan del Sur hingegen ist man schon stolz auf den Bau einer Öko-Lodge mit zwölf Zimmern – und speist ausländische Gäste noch nicht mit geschulter Professionalität ab. „Das Geld reicht nicht? Dann zahlst Du eben morgen“, sagt die Frau im Tante-Emma-Laden. Sie reicht eine Tüte mit Pulver über die Theke. „Und nimm das noch mit, mein selbst gemachter Kakao hat Dir doch beim letzten Mal so geschmeckt.“