Freitag, 25. Juni 2004

Umzug



Draußen vor meinem Fenster leuchten die Lichter des Mariscal und des Viertels Gasca, das sich im Westen der Stadt den Berg hochzieht, über dem jetzt gerade die schmale Mondsichel steht. Dass ich von meinem Schreibtisch aus neuerdings einen so schönen Ausblick über die moderne Innenstadt von Quito genieße, liegt daran, dass ich am Sonntag umgezogen bin. Ich wohne jetzt im sechsten Stock eines Hauses im Mariscal in einem kleinen Appartement, das ich durch eine Zeitungsanzeige gefunden habe. Während ich in der anderen Wohnung wirklich fast erfroren bin, mich prompt eine heftige Grippe erwischt und mit Fieber niedergelegt hat, ich untertags das Licht einschalten musste und nicht einmal den Himmel sehen konnte, habe ich hier neben dem wunderbaren Ausblick auch den ganzen Nachmittag Sonne – was die Wohnung ordentlich aufheizt und mich in den schweinekalten Nächten glücklich macht. Zwar regnet es tagsüber nicht mehr, aber dafür ist jetzt der Temperaturunterschied um so größer.

Meine neue Wohnung würde ich – wenn sie europäischen Baumaßstäben entspräche – auch in München sofort nehmen. Im Gegensatz zu deutschen Großstädten ist der Mietmarkt hier ziemlich entspannt. Ein Zimmer ohne Bad und Küche in einer der gefährlicheren Gegenden ist schon für 50 Dollar zu haben. Ich habe mich nach eingehender Prüfung meiner Ausgaben und Ersparnisse und tagelanger Zeitungslektüre dann doch für die Luxusvariante eines möblierten Appartements mit Sicherheitsdienst in einem halbwegs besseren Viertel entschieden: Eine amerikanische Küche in einem großen Raum, ein Schlafzimmer und ein Bad mit funktionierender Warmwasser-Dusche. Dass ich die Wohnung bekommen habe, obwohl ich nur bis Ende Oktober bleibe, liegt daran, dass ich Ausländerin bin. Weil sich die Vermieterin von mir regelmäßige Zahlungen und wenig Ärger verspricht, ist sie sogar um 20 Prozent mit dem Preis heruntergegangen. Die Oma, die bei der Wohnungsbesichtigung mit den frisch gewaschenen Gardinen auf dem Schoss auf dem Sofa saß, sagte nicht viel. Nur ein ums andere Mal: „Que linda!“ Es bedurfte einiger Ausrufe, bis ich endlich merkte, dass sie mich damit meinte. Meine blonden Haare hatten es ihr angetan (wie auch meiner Friseurin hier).


Eigentlich müsste man meinen, ein Umzug nach sechs Wochen dürfte kein Problem sein. Tatsächlich war ich dann doch froh, dass sich meine italienische Kollegin Chiara als Helferin angeboten hatte. Neben dem Reisegepäck hatte sich nämlich doch schon einiges angesammelt: außer einer gewissen Grundausstattung an Lebensmitteln und Haufen von Zeitungsausschnitten leider auch ein Berg von schriftlichen Unterlagen und Büchern, darunter ungefähr neun Gedichtsbände, wie ich am Sonntag feststellten musste. Dabei hätte ich schwören können, dass ich höchstens drei gekauft habe! Damit ist jetzt Schluss, ohnehin sind Bücher hier mehr als irgendwo anders eine Frage des Geldes: Mein Spanisch-Spanisch-Wörterbuch für 25 Dollar, das ich nach wochenlanger Suche endlich in einem Laden in einem der amerikanisch anmutenden modernen Einkaufszentren entdeckt habe, entspricht durchschnittlich etwa einem Fünftel Monatslohn. Kein Wunder also, dass Lesen hier nicht zu den Nationalsportarten zählt.

Mein neues Heim macht mich bisher ausnahmslos glücklich, und ich hoffe, dass das auch so bleibt. Eine Nachbarin aus Belgien ein Stockwerk tiefer zieht nämlich wegen der vielen Kakerlaken aus. Bis jetzt habe ich noch keines der Tierchen entdeckt, und damit das auch so bleibt, schließe ich nun immer den Klodeckel, sperre alle Lebensmittel in den Kühlschrank, spüle jeden Abend brav mein dreckiges Geschirr ab und stelle hinterher einen schweren Topf, gefüllt mit Wasser, auf den Abfluss. Erst am vergangenen Samstag, als ich mittags meine Portion Spanferkel mit Kartoffelbrei im Markt von Santa Clara hier um die Ecke vertilgt hatte, ist mir eines dieser Viecher über den leeren Teller gelaufen. Meinem Appetit konnte das Tier da zwar nichts mehr anhaben, aber Fleisch kriege ich auch hier nicht auf die Knochen. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich immerzu beschäftigt bin. Es gibt hier so viele interessante Dinge, und für alles reicht die Zeit gar nicht. Zusätzlich zu meiner ONG habe ich nämlich eine neue Beschäftigung gefunden.


Vergangenen Samstag habe ich an einem Workshop eines linken Zwei-Wochen-Blattes teilgenommen. Dieses ist vor dreieinhalb Jahren das erste Mal erschienen, als der Protest der Indigenas hier einen Höhepunkt erreichte und schließlich zu einem Wechsel der Regierung führte. Die Zeitung namens Opción versteht sich als Sprachrohr des Widerstands und ist in dieser mehr als einfältigen ecuadorianischen Zeitungslandschaft trotz ihrer Mängel eine Wohltat. Weil die Journalisten für die Internet-Berichterstattung über das amerikanische Sozialforum, das im Juli in Quito stattfindet, zusätzlich Leute brauchen, haben sie am vergangenen Samstag im Schnellverfahren ein paar junge Studenten angelernt.

Ich selbst habe leider keine Zeit, etwas über die Veranstaltung zu schreiben, weil ich an diesen fünf Tagen bereits für Amnistía arbeiten muss, und deren Zielvorgaben sind ziemlich ehrgeizig. Mindestens fünf nationale Radiosender, zwei nationale Fernsehkanäle und zwei weitere Medien sollen über uns berichten. Dies ist angesichts der schlechten Organisation und der schlechten Planung und der Größe der Veranstaltung fast nicht zu schaffen. Deshalb habe ich zum einen jetzt angefangen, selbst einen Plan für unsere Kampagne „Stoppt Gewalt gegen Frauen“ auszuarbeiten, obwohl das eigentlich gar nicht mein Aufgabengebiet ist. Und zum anderen habe ich den Journalisten von Opción angeboten, für ihre Internetausgabe etwas über die Vorbereitungen von Amnistía zu verfassen. Wenn andere nicht über einen schreiben, muss man es halt selbst tun. Prompt stiegen die darauf ein, luden mich in die Redaktion ein, wo ich inzwischen auch war, boten mir alle Hilfe bei meinen sonstigen Recherchen an und baten mich trotz meines fehlerhaften Spanisch, für die Druckausgabe etwas Größeres über die Europäische Union zu schreiben.

Weil das zeitlich alles gar nicht zu schaffen ist, musste ich nun leider meine Sportstunden aufgeben. Dabei hätte ich Euch gerne mehr über Capuera berichtet: eine Mischung aus Tanz und Kampfsport zu Trommelmusik aus Brasilien, die mich in den vergangenen Wochen an den Rand der Verzweiflung trieb. Nicht nur, dass die Bewegungsabläufe einfach eine Spur zu kompliziert für mich sind, sondern dass ich abends auch meine Füße nicht mehr sauber bekommen habe. Zum Üben musste man seine Socken ausziehen, und das kleine Kabuff im ersten Stock eines uralten Hauses hier in der Neustadt ist wohl seit seiner Erbauung nicht mehr geputzt worden. Von Umkleide, Dusche oder gar Sauna will ich gar nicht erst sprechen.


Aber nicht dass hier der Eindruck entsteht, ich würde nur arbeiten. Bereits zweimal bin ich mit dem Bus durch das Land gefahren, und vergangenen Sonntag nach dem Umzug im Taxi sind Chiara und ich über den ersten Bergzug im Osten gelaufen, an dessen Kuppe die Stadt endet, und fanden uns auf der anderen Seite prompt in einem beschaulichen, ruhigen und abgasarmen Dorf mit Wallfahrtskirche und Franziskanerkloster wieder. Auf der Terrasse eines einfachen Wochenendlokals aßen wir mit Blick auf das Tal panierten Fisch mit Pommes und tranken dazu frisch gepressten Papayasaft, atmeten tief durch und fühlten uns angesichts der Umgebung fast wie in den Schweizer Bergen.

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