Donnerstag, 28. Oktober 2004

No Man´s Land







Die Wirklichkeit ist immer anders, als man sie sich vorgestellt hat. Das hat nicht nur die Reise nach Peru gezeigt, das habe ich auch auf meiner jüngsten Reise wieder festgestellt. Lago Agrio oder Nueva Loja, wie die Stadt im Norden des Landes auch heißt, gilt als gefährlichster Ort in ganz Ecuador. Bis vor 20 Jahren soll es im Umfeld nur dichten unberührten Urwald gegeben haben. Nach Entdeckung der ersten Erdölvorkommen setzte dann ein Boom ein, in dessen Verlauf sich dort Arbeiter des Texaco-Konzerns, Straßenbautrupps, Jäger, Glücksritter, Holzfäller, Soldaten, Prostiutierte und entwurzelte Indígenas ansiedelten. Die Nähe zur kolumbianischen Grenze zieht heute außerdem Waffen- und Drogenschmuggler, Flüchtlinge und versprengte Guerilla-Kämpfer an. „Von abendlichen Spaziergängen abseits der Hauptstraße wird dringend abgeraten“, heißt es in meinem Führer. Tatsächlich aber stieg ich nach einer Nacht im Bus in einem Ort aus, der außer einer schwülen Hitze einfach nur pralles Leben zu bieten scheint und deshalb trotz seiner staubigen, ungeteerten Straßen, Holzbaracken, unfertigen Betonhäuser und verwegenen Gestalten außerordentlich sympatisch wirkte.


Erstes Ziel nach einer Dusche in einem billigen Hotel und einem Frühstück war das Büro der Föderation der Bauern-Organisationen der Region Sucúmbios. Präsident Daniel Alarcon, ein Schwarzer aus der Küstenstadt Esmeraldas, hatte ich vorher schon in Quito getroffen, und mit seiner Hilfe machten Tancredi, Linda und ich noch am selben Tag eine achtstündige Rundfahrt durch den Grenzstreifen, um uns mit eigenen Augen die Folgen des Plan Colombia anzuschauen, für den die USA jährlich 860 Millionen Dollar ausgeben. Offiziell unterstützen sie damit Kolumbien im Anti-Drogen-Kampf, tatsächlicher Hintergrund aber ist der Kampf gegen die FARC, die linke Guerilla Kolumbiens. Im Rahmen dieses Planes besprühen die Nordamerikaner aus der Luft Coca-Felder mit Glifosat. Dieser Giftstoff macht aber natürlich nicht an der kolumbianisch-ecuadorianischen Grenze Halt. Die Folgen: Frühgeburten, Missbildungen, Erkrankungen von Haut und Nervensystem, tote Viecher, kontaminiertes Wasser und eine Erde, auf der nichts mehr wächst, weder Banane noch Maniok noch Kaffee. Männer zeigen die Geschwüre auf ihrem Hinterkopf, Frauen weinen um tote Kinder, und wer kann, verlässt die Gegend. Wie es auf der kolumbianischen Seite aussieht, kann ich mir jetzt lebhaft vorstellen.


Zu Beginn zogen Sarah, eine der Angstellten der Bauern-Föderation, und ich erst einmal los, um einen Pick-up zu mieten. Der Taxifahrer schaute uns zweifelnd an und sagte lakonisch: „Na, dann hoffe ich, dass sie mich nicht entführen.“ Als ihm Daniel Alarcon dann im Büro die genaue Route erklärte, brauchte der Mann noch einmal einige Minuten, bis er sich endlich dazu durchrang, mit uns 50 Dollar zu verdienen. So ging es über Schotterstraßen, Wellblechpisten und Forstwege von Dorf zu Dorf. Letzte Station der Rundfahrt war der Ort San Francisco II, 500 Meter von der Grenze entfernt. An einer Militärsperre einige Kilometer vorher kontrollierte ein Soldat unsere Ausweise, fragte nach dem Ziel und sagte zum Abschied nur: „Vorsicht!“ Das war das Stichwort, um den Taxifahrer noch nervöser zu machen. „Das hier ist die Coca-Straße“, sagte er. Einer der Grenzwege für die Drogenschmuggler. Er schaute sich ständig um, der Weg aus faustgroßen Steinen und einer Aneinanderreihung von Schlaglöchern erlaubte nur noch Schrittgeschwindigkeit. Nach einigen Kurven im dichten Wald tauchte eine Frau aus einem Pfad auf, hob warnend den Finger. Kurz darauf brannten rechts und links kleine Feuer am Wegesrand – und da waren plötzlich in der nächsten Kurve zwei Männer zu erkennen. Der Taxifahrer erlitt eine Schweißattacke und überlegte sichtbar, ob er nicht doch besser den Rückwärtsgang einlegen sollte. Allerdings ganz ohne Grund. Wir passierten die beiden Bauern ohne Zwischenfälle. In der Dämmerung und nach zwei Dutzend Interviews kehrten wir wieder heil nach Lago Agrio zurück, wo wir uns ein üppiges Abendessen gönnten, hinterher durch die Hauptstraße schlenderten und dabei Volksküchen, Alkoholausschanke, Prostiuierte und Soldatenposten passierten und uns mit reichlich Schokolade für den Nachtisch eindeckten.


Anderntags tuckerten wir im Bus drei Stunden in Richtung Süden nach Coca, das, als Missionsvorposten gegründet, auch Francisco de Orellana heißt. „Lust auf schmutziges Wildwest-Ambiente, schlammige Avenidas, platt gefahrene Müllhaufen und allerorts tropisch brütende Fäulnis? Verrückt nach aufgewirbelten Staubwolken und einem mit Rohölresten bespritzen T-Shirt, das unter einer hermetischen Hitzeglocke wie ein Neopren-Anzug am Oberkörper festklebt? Ganz wild auf grimmig dreinblickende Militärs mit Spiegelglassonnenbrillen in starren Gesichtern, schuftige Trunkenbolde, dickbäuchige Petroleros, jähzornige Stechmücken und leidgeprüfte, aus morschen Bordellbaracken entsprungene Straßenkinder? In diesem Fall ist der am unteren Río Napo gelegene Flusshafen mit dem heiklen Namen genau das Richtige.“ So schreibt mein Führer. Aber wiederum: Was ich vorfand, war ein sympathisches kleines Provinznest.


In Coca hatte ich einen Termin im Büro von Luis Yanza von der Front zur Verteidigung des Amazonas-Gebiets vereinbart. Die Organisation vertritt die Interessen derer, die unter den Folgen der Erdölförderung durch Texaco leiden und gegen den Konzern klagen. Yanza organisierte mir nach einem Gespräch einen Taxifahrer für den anderen Tag. Anschließend tranken Tancredi, Linda und ich noch ein gemeinsames Bier, bevor die zwei bereits wieder in den Bus nach Quito stiegen und mich alleine zurückließen. Nach einem Abendessen schlenderte ich in mein viertklassiges Hostal am Flussufer, trank auf der Terrasse mit Blick auf den Río Napo mein auf dem Heimweg gekauftes Bier und legte mich schließlich schlafen – mit dem Geräusch eines summenden Ventilators im Ohr und dem Blick auf eine vertrocknete Kakerlake auf dem Fliesenboden. Anderntags beim Frühstück in der Stadt stürmte ein Trupp Erdölarbeiter das Lokal und ich sah mich plötzlich in Begleitung dreier Indígenas am Tisch, die Eier im Glas, Semmeln mit Marmelade und Käse aßen, eine Tasse Milch schlürften und sich hinterher noch Reis und Banane mit Ragout schmecken ließen. Frühstück „completo“, wie es auf der Speisekarte heißt. In Lago Agrio nannte man es Frühstück „petrolero“.


Jorge, der Taxifahrer, entpuppte sich als gemütlicher, kugelrunder, grauenhaft nuschelnder, aber kundiger Führer durch das ehemalige Fördergebiet von Texaco im Amazonasgebiet. Auf der siebenstündigen Rundfahrt sah ich alles an Verseuchung, was zu sehen ist: Bäche, die nichts anderes sind als 40 Zentimeter Rohöl, Erdölbrunnen, offene Öl-Becken, Anlagen zum Abfackeln der Gase... Ich sprach mit Bauern, deren Rinder verrecken, denen nur kontaminiertes Trinkwasser bleibt und die unter diversen Krankheiten, dem Lärm der Anlagen und allerhand anderem leiden. Wer kann, verlässt auch diese Gegend.


Das wollte ich eigentlich auch tun nach meiner Rundfahrt, aber Jorge lud mich zu sich nach Hause ein, wo uns seine Señora ein ordentliches Essen auftischte – na ja, er hatte auch einen ordentlichen Preis für die Rundfahrt verlangt. Nachdem der Taxifahrer wieder zum Arbeiten verschwunden war, wechselten seine Frau und ich auf die Hängematten der Betonterasse im ersten Stock des Hauses und plauderten drei Stunden angeregt. Sie erzählte unter anderem von dem Indianerstamm, der heute noch nackt im Urwald rumrennt und von dem niemand etwas weiß, weil er jeden umbringt, der sich auch nur ein bisschen nähert. Die zwei Missionare, die 1987 zur Kontaktaufnahme in den Dschungel aufgebrochen waren und dort ermordert wurden, stammten aus Coca. Mit Berichten über die Lanzenstiche in den Leichen, das ihnen gewidmeten Museum, Rotfuß- und Gelbfußindianer und die Bürgermeisterin, die am vergangenen Sonntag zur Provinzpräfektin gewählt wurde, verging die Zeit bis zur Abfahrt meines Busses wie im Flug.

Im Bus schließlich kam ich ausgerechnet neben dem Dorfsekretär eines Ortes zu sitzen, der in einem Biosphärenreservat liegt und gegen die dort im Januar beginnende Erölförderung durch ein chinesisches Unternehmen kämpft. Ein Steinchen mehr in meiner Recherche. Und als der Dorfsekretär ausstieg und sich ein junger Soldat neben mir niederließ, war ich schon so müde, dass ich gar nicht mehr reagierte, als sich dieser im Laufe der elfstündigen Fahrt mehr und mehr an mich hinkuschelte. Ich schlief tief und fest. Trotzdem kam ich im Morgengrauen reichlich erschöpft in Quito an.

Es war voraussichtlich erst einmal meine letzte Reise in diesem Land. Am Mittwochmorgen fliege ich via Panaman nach Nicaragua, um für eine deutsche Stiftung eine kleine Studie in spanischer Sprache über die dortige Presselandschaft anzufertigen. Abgabetermin 20. Dezember. Zum letzten Mal also ganz viele herzliche Grüße aus Ecuador.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Thanks for this post, I am considering talking about the same in my blog.


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