Samstag, 13. November 2004

La Zora




Vor einer Woche bin ich hier in Nicaragua gelandet, in einer kuriosen Mischung aus USA und Afrika, und ich versuche mich immer noch an den abrupten Wandel meines Lebens zu gewöhnen. Nach den vielen studentischen Nächten in Quito und einem tränen- und alkoholreichen und tagelang gefeierten Abschied von vielen guten Freunden bin ich hier ohne mein Zutun in ein Familiennest gefallen. Und während die Zeitungen hier von einer Kältewelle sprechen, sitze ich mit dem Laptop auf den Knien bei Dunkelheit und annähernd 30 Grad im Licht einer Straßenlaterne auf dem Terassenboden eines hermetisch abgesperrten Einfamilienhauses in einem Mittelklasse-Wohnviertel von Managua. Der private Straßen-Wachmann schnorrt mich gerade durch die Gitter um eine Zigarette an und kommuniziert gleichzeitig mit seinem Kollegen durch die Trillerpfeife, die hier die ganze Nacht durch die Gegend gellt, und von irgendwoher bellen mindestens sieben Hunde. Aber ich will mich dieses Mal ausnahmsweise ein bisschen an die chronologische Reihenfolge halten.


Mit 15 Kilogramm Übergepäck bin ich in dieser Stadt angekommen, dazu mit einer neuen Nebenhöhlenentzündung und verstopften Ohren. Die Herberge „einen Block nördlich und einen Block östlich vom Ticabus-Terminal“, wie die offizielle Adresse lautet, war als solche eigentlich nicht zu erkennen und hat mich dann auch nicht lange überzeugt - obwohl ich das einzige Zimmer mit eigenem Bad und einem kleinen Beistelltisch kriegte. Der Raum roch stark nach Ölfarbe und hatte kein Fenster, nach wenigen Minuten legte sich mein T-Shirt in der tropischen feuchten Hitze, die in dem Zimmer stand, klitschnass an den Körper, und vom Vorraum, der der Herbergsfamilie als Küche, Baby-Schlafzimmer, Kramerladen, Restaurant und Waschzimmer gleichzeitig diente, drang außerdem Musik, Fernsehlärm, Kinderweinen und Muttergeschrei herein. Ich verzichtete darauf, dem noch das höllische Surren des Ventilators hinzuzufügen und machte mich erst einmal auf den Weg. Einige Straßenzüge weiter in einem Einkaufszentrum, an dessen Eingang darauf hingewiesen wurde, dass der Eintritt mit Waffen verboten ist, besorgte ich mir einheimische Währung, Cordobas. Und schon auf dem Heimweg fand ich ganz zufällig ein kuscheliges kleines möbliertes Apartement, in das ich anderntags auch gleich einziehen wollte.

Am Morgen machte ich mich allerdings erst einmal auf den Weg in das Büro der deutschen Stiftung, offizielle Adresse: Südliche Straße, Kilometer 14, 300 Meter linker Hand. Soviel konnte sogar ich erkennen: Das Büro befindet sich ab vom Schuss. Ich fand aber ohne Probleme Bus 118 und wechselte bei Kilometer sieben auf der südlichen Straße wie von der Herbergswirtin angwiesen in einen Minibus. Da stieg schon wieder dieses Glücksgefühl auf, das immer kommt, wenn ich in einem alten abgewetzten, durchgesessenen Sitz jeden Knochen meines Hinterns einzeln spüre, mir durch alle Fenster der Fahrtwind und die absurdesten Gerüche ins Gesicht wehen, die fliegenden Händler im Zwischengang abwechselnd Wasser aus Plastiktüten, Bananen-Chips, Batterien und Haargummis anbieten und ich überhaupt nicht weiß, wohin ich fahre. Was ich sah: üppige Vegetation, Wellblechhütten, Abwasser-Rinnsale, Mitsubishi-Vertretung, Mall im nordamerikanischen Stil, Hühnchen-Schnellimbiss, einen Vulkan und nach einem nächtlichen Wolkenbruch absolut klare und reine Luft, die der Sonne eine besondere Brillanz verlieh.

Dass mich der Busfahrer nicht an Kilometer 14, sondern schon bei 13.7 rausgeschmissen hatte, merkte ich erst, als nach 600 Metern in der Straßeneinfahrt immer noch kein Haus mit dem Schild der Stiftung aufgetaucht war. Ich latschte wieder zurück, vorbei an herrschaftlichen Heimen in großen Grundstücken, in denen gerade die Gärtner zuwege waren, die sich alle nicht auskannten im Viertel ihrer Herrschaft, und drei lange Straßeneinfahrten weiter wurde ich schließlich fündig. Inzwischen war ich total verschwitzt, ordentlich verspätet, hatte einen Sonnenbrand und die erste Bekanntschaft mit dem aufgeschlossenem Wesen nicaraguanischer Männer gemacht – um den Weg abzukürzen, war ich schlussendlich über eine Baustelle gelatscht, an der zwei Dutzend Maurer, Gärtner und Schreiner handwerkten. Die Dame von der Stiftung jedenfalls war entsetzt. Ob mehr über meinen Zustand oder darüber, dass ich mit dem Bus gekommen war, konnte ich nicht herausfinden.


Keine halbe Stunde später jedenfalls versicherte sie Douglas, Wastis Studienkollegen aus Barcelona, jefe de informacion bei der größten nicaraguanischen Tageszeitung La Prensa und ehemaliger Stipendiat der Stiftung, der ihr am Telefon meine Unterbringung angeboten hatte, dass ich mich darüber sicher wahnsinnig freuen würde, und nach meiner Rückfahrt und einem ersten Interview mit einem freien Autor und Uni-Professor landete ich mit Sack und Pack im Viertel Bello Horizonte bei dem 44-Jährigen Journalisten, seiner 30-jährigen Frau Dayra und der neunjährigen Tochter Kathleen sowie der Hausangestellten, die mich alle – obwohl sie mich gar nicht kannten – aufnahmen, als wären wir alte Freunde.


Schon am zweiten Tag packten sie mich ins Auto und wir fuhren ins 40 Kilometer entfernte Granada, besuchten dort die Oma und machten anschließend eine Rundfahrt durch die koloniale Altstadt. Anderntags lernte ich den großen Obst- und Gemüsemarkt kennen sowie die Lagune Apoyo, von deren Rand man einen wunderbaren Blick auf Granada, den Lago Nicaragua sowie den Vulkan Masaya hat. Und lernte dabei einiges über das Leben einer Mittelklassefamilie in Nicaragua, die sich von einer solchen in Ecuador wahrscheinlich höchstens dadurch unterscheidet, dass weniger Indianer-Blut in ihren Adern fließt. Worin sie sich nicht unterscheidet: in der fast schon als Manie zu bezeichenden Angst vor Kriminalität, Diebstahl, Raub und Mord.


Allerdings muss ich zugeben, dass man hier doch etwas handfest vorgeht. Diese Woche haben sie in der Heimatstadt Dayras, in den Bergen von Chantale, eine junge Journalistin erschossen, eine entfernte Verwandte meiner Gastgeberin. Das Mädel hatte etwas geschrieben, was dem Vize-Bürgermeister nicht passte, und da zückte er eben seine Waffe. Er ist nicht der erste, der ein Problem mit der Presse in diesem Jahr auf diese Art gelöst hat. Der Grund seiner Unzufriedenheit lag übrigens in der Berichterstattung über die Kommunalwahlen am vergangenen Sonntag, bei denen die Sandinisten praktisch alle Rathäuser des Landes zurückerobert hatten. Während die Linken immer noch feiern, befinden sich die Liberalen im Schockzustand und schreien Betrug und Fälschung.

Der abrupte Wechsel meines Lebens hat allerdings nicht nur damit zu tun, dass ich nun bei einer Familie in einem Viertel ab vom Schuss wohne, sondern natürlich auch mit der Stadt selbst. Managua fehlt jede Form von Urbanität, für Fußgänger ist die Stadt vollkommen ungeeignet, ein Zentrum im herkömmlichen Sinn scheint es überhaupt nicht zu geben, der öffentliche Busverkehr ist viel schlechter als in Quito und tatsächlich falle ich im Gegensatz zu dort hier fast so sehr auf wie in den Slums von Nairobi. Ohne Taxi kann ich mich praktisch nicht fortbewegen. Sobald ich nur einen Meter zu Fuß mache, werde ich als „mami“ oder „mamita“ (männlicherseits), in weniger freundlichen Fällen als „zora“ (weiblicherseits) angequatscht.

Und so habe ich es also nach einigen Versuchen aufgegeben, meine Termine mit Bus oder zu Fuß zu machen und kutschiere seit Dienstag, nach einigen Tagen Internet-Recherche hier in einem Ciber-Café um die Ecke, im Taxi von Zeitung zu Wochenblatt zu Radio zu Fernsehstation, um Chefs vom Dienst, Eigentümer und Direktoren zu interviewen. Mein nach einigen Tagen Suche erworbener Stadtplan ist mir dabei allerdings von wenig Nutzen, Metermaß und Kompass wären da schon hilfreicher. Die absurdesten Adressenangaben in dieser Stadt fast ohne Straßennamen beginnen mit dem Satz: „da wo einmal das Kino Dorado/die Fleischerei Gutiérrez/das Hotel ich weiß nicht mehr wie es heißt stand, davon drei Straßenzüge zum See und anderthalb nach Norden“. Selbstverständlich finden sich diese Fixpunkte aus der Zeit vor dem Erdbeben im Jahr 1972 in meinem Stadtplan nicht wieder.

Während ich mich also gerade an viele Neuerungen gewöhne, gibt es aber immerhin eine Konstante. Auch hier isst man mehrmals täglich Reis. Der hier täglich von roten Bohnen begleitet wird. Zwar lässt mich die hervorragende Köchin fast vergessen, dass ich Reis gar nicht mag. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich im Supermarkt wieder nicht an den Oliven, dem Weißbrot und den Würstel vorbeigekommen bin, die aussahen wie spanische Chorrizos. Und an denen werde ich mich jetzt noch schnell vergreifen. Ich habe zwar allein in dieser Woche hier schon mindestens drei Kilo zugenommen, aber das kann ja nicht schaden. Man weiß ja nie, was noch alles kommt.

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