Donnerstag, 16. August 2007

7,9 auf der Richterskala







Auf dem Schreibtisch liegen immer noch die heruntergefallenen Mauerstückchen. Der ausgeräumte Schrank steht auf den Telefonbüchern, die Bücher stapeln sich auf dem Esstisch, und der Putzeimer versperrt den Weg in die Küche. Bis in die Abstellkammer traute ich mich nur kurz vor. Dort klafft in einer Ecke ein faustgroßer Riss, eine herabgebrochene Holzverkleidung verklemmt die Tür, und auf dem Boden haben sich Wasser und Mauerbrösel zu einer kleisterartigen Masse vereint.

Es war Edbeben in Peru, 7,9 auf der Richterskala. Aber in meiner Wohnung in Lima hatte ich hauptsächlich Überschwemmung – und das ganz ohne Tsunami.

Während der zwei Minuten langen Erschütterung am Mittwochabend hatten wir uns in der Arbeit zu viert an einem Pfeiler aneinandergedrückt, unter dem grünen Schild „Sichere Zone bei Erdbeben“. Zum Glück waren alle anderen schon heimgegangen, die ganze Abteilung hätte dort nicht Platz gehabt.





Vom Pfeiler aus schauten wir auf die wackelnden Mauern und die Eingangsglasfront, die sich einen halben Meter in das Büro blähte und derentwegen wir nicht aus dem Gebäude flüchten konnten. Das Grummeln und Klirren und Schwanken hörte nicht auf. Während wir mit belegten Stimmen mutmaßten, wann die Scheiben bersten würden, holte der Kollege aus der Verwaltung seinen Stift aus der Hosentasche und sagte mit geschäftigem Blick auf die Unterlagen in seiner Hand: „Also, ich war gerade dabei, die Inventarliste zu kontrollieren. Wo habt Ihr denn die dreifächrige Metallablage stehen?“

Hinterher lachten wir darüber. Da standen wir dann wie alle in der Dunkelheit auf der Straße herum, und jeder hielt sein Handy ans Ohr. Aber die Netze waren längst zusammengebrochen. Die Kollegen erzählten vom großen Erdbeben in den Siebzigern, als in Lima die Straßen aufbrachen und in den Anden ein ganzes Dorf verschwand. Als die ersten mit dem Taxi nach Hause wollten, verlangten die Fahrer plötzlich den vierfachen Preis.

Mir zitterten noch ein bisschen die Knie, als ich mich im Auto auf den Heimweg machte. Der Radiosprecher verlas Totenmeldungen, dann stellten er einen Hörer durch. Es war ein Fischer aus Punta Hermosa im Süden Limas. Das Meer sei so komisch und draußen hätten sie Lichterscheinungen gesehen. Der Moderator kündigte Nachbeben für die gesamte Woche an. Dann plötzlich Aufregung in seiner Stimme: „Eilmeldung:Tsunamiwarnung in Peru und Ecuador.“ Ich bog prompt falsch ab, was mich wegen der Einbahnstraßen, des Staus und der ausschwärmenden Krankenwagen eine halbe Stunde kostete.

Der Parkplatz vor dem Haus war voll. Nicht mit Autos, nein, mit herabgestürzten Mauerteilen und aufgelösten Nachbarn. „Ich weiß nicht, ob sie da heute übernachten können. Schauen Sie erst mal, wie´s drinnen aussieht!“, sagte die Verwalterin mit zuckenden Schultern. Durch das Beben war die Hauptwasserleitung des Hochhauses zerborsten, Teile des Tanks vom Dach herabgebrochen.

Der Weg vom Eingang in die Wohnung glich dem Pfad in einer Tropfsteinhöhle. Der Aufzug war außer Betrieb. Knöcheltief stand das Wasser im Treppenhaus, von überallher tropfte es. Die runzelige Hausangestellte von nebenan steckte den Kopf aus der Tür. „Fräulein, drehen Sie gleich die Sicherung heraus!“ Kurz darauf stand sie mit einem Besen bei mir im Wohnzimmer und half mir in der Dunkelheit, den See nach draußen zu wischen. Nach einer Stunde sahen wir Land, und sie sagte: „Jetzt suchen Sie sich besser ein Nachtquartier, Fräulein!“

Was steckt man ein in Katastrophenfällen? Ist überhaupt noch Katastrophe? Kommt wirklich ein Tsunami? Wie lange würde ich bei Freunden übernachten müssen? Ich holte Pässe, Tan-Nummern und Kreditkarten aus dem Schreibtisch, steckte Schlafanzug, frische Wäsche und meine externe Computerfestplatte ein, stopfte das Zahnputzzeug dazu und schulterte den Schlafsack.

„Tut mir leid, ich schlafe selbst bei Freunden. In meiner Wohnung im 15. Stock ist mir einfach nicht wohl“, sagte der Kollege, als ich endlich wieder ein Netz hatte und auf seinem Handy durchkam. Er hatte während des Bebens seinen Teppich ruiniert – er war gerade dabei gewesen, sich ein Glas Wein einzuschenken. „Hola, ich bin gerade im Supermarkt und kaufe Batterien für die Taschenlampe und das Radio“, sagte die Kollegin. Sie wusste, was man in Katastrophenfällen tut. Diese Nacht war ich gut aufgehoben.

Das Handy klingelte. Um ein Uhr nachts. Um zwei Uhr nachts. Um drei Uhr nachts. „Ja, ja, mir geht´s gut.“ Blöde Zeitverschiebung nach Deutschland. Um acht fuhr ich zurück zu mir. Vor dem Haus stand schon ein Lastwagen mit Kabeltrommeln, ein Dutzend Handwerker wuselte durch das Treppenhaus. Ab Mittag sollte es wieder Wasser und Strom geben. Als der Wohnungsbesitzer endlich auftauchte, amüsierte er sich. „Sie sind aber ängstlich. Wohl noch nie ein Erdbeben erlebt?“, frotzelte er. Dann hielt er einen langen Vortrag über erdbebensichere Bauweise und versprach trotzdem, noch für den selben Tag Handwerker und Statiker zu organisieren. Ich hatte mit Auszug gedroht.
In der Arbeit schickten sie uns wieder heim, die Schulen blieben zu, die Ärzte sagten ihren dreitägigen Streik ab, ein Stadtviertel in Lima wurde evakuiert, die Totenmeldungen erhöhten sich, und im Park gegenüber spielen sie schon wieder Tennis. Die Wohnung gleicht einer kalten Sauna, und das Festnetz funktioniert immer noch nicht. So sitze ich an meinem Schreibtisch mit den heruntergefallenen Mauerstückchen und schaue auf die schäumenden Pazifikwellen, die an die Steilküste donnern, und warte. Nicht auf den Tsunami, diese Warnung ist zurückgenommen. Nein, auf die Handwerker.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo Uschi!!

Ich weiß gar nicht was ich schreiben soll....Jedenfalls bin ich rießig froh, daß dir soweit nichts passiert ist!!!!
Hoffentlich wird die Wohnung wieder gut in Ordnung gebracht.
Viele liebe Grüße
Rainer+Gisela mit Juliane
p.s. Wenn du etwas brauchst, dann gib Bescheid, o.k.?

Anonym hat gesagt…

Liebe Ursel,

Dein Blog ist richtig gut geworden. Und Dein Bericht über das Erdbeben lässt einem auch von hier aus die Knie zittern. So ein Zimmer-Tsunami ist natürlich großer Mist. Aber Haupsache, die Decke ist oben geblieben. Wünsche allzeit festen Boden unter den Füßen!
Wast