Freitag, 9. Juli 2004

Unterwegs






Frische Luft, weite Sicht, Stille und Andenleben am Ende der Welt: Am vergangenen Wochenende bin ich mit drei Kolleginnen und einem durchreisenden Franzosen aus dem Hostal der Mädels aus dem Abgaskessel Quitos in den Nationalpark des Cotopaxi geflohen - auch als Vorbereitung auf die Besteigung des fast 6000 Meter hohen Berges. Zwar mögen die jeweils mehr als fünf Stunden für Hin- und Rückfahrt für eine fünfstündige Wanderung etwas aufwendig erscheinen, aber es hat sich trotzdem gelohnt. Zum einen glaube ich jetzt: Die Höhe des höchsten freistehenden aktiven Vulkans ist zu bewältigen. Zum anderen ist die Anreise allein schon ein Abenteuer – jedenfalls für uns Gringas. Und zum dritten weiß ich nun, dass ich auf jeder noch so holprigen Strecke und in jeder Stellung und selbst mit einer Pobacke auf der Abdeckung des Busmotors, der anderen in der Luft und dem Kopf auf der Armlehne des nächsten Sitzes tief und selig schlafen kann.


Samstagnachmittag um drei haben wir uns nach einem Workshop mit Studenten auf den Weg gemacht: Nach einem Wechsel der Buslinie in der 80 Kilometer oder zwei Stunden entfernten Provinzhauptstadt Latacunga erreichten wir gegen 20 Uhr ein Dorf in den westlichen Andenkordilleren namens Zumbahua – gut durchgerüttelt, etwa als wären wir die letzten drei Stunden der Strecke auf einer schleudernden Waschmaschine gesessen. In dem Nest stiegen wir mit einigen Bauern bei absoluter Dunkelheit auf die offene Ladefläche eines Kleinlasters, von der aus wir bei Eiseskälte dick eingemummelt den Sternenhimmel und den über den Bergspitzen aufgehenden Vollmond bewunderten – wenn uns angesichts der Steigungen, Kurven und Abgründe, der rasanten Geschwindigkeit und des ausfallenden Scheinwerferlichts nicht gerade der blanke Schrecken in die Glieder fuhr.


Nach einer halben Stunde setzte uns der Fahrer auf 4500 Metern im zehn Häuser großen Quilotoa an einer einfachen Unterkunft ab: In der Mitte eines großen Raumes bullerte ein kleiner Ofen, daneben ein langer Holztisch mit Bänken, an den Wänden hingen naive Indigena-Malereien, mit denen sich der Hausherr ein Zubrot verdient und die in exakt dieser Art in Quito an jeder Straßenecke verramscht werden. Außer einer karg ausgestatteten Küche gab es noch einen Trakt mit zwei Dutzend Doppelbetten und ein Plumpsklo auf dem Hof. Nach einem Abendessen mit Gemüsesuppe, trockenem Reis und Spiegelei legten wir uns bald schlafen, während das halbe Dutzend Kinder des Hauses immer noch Rambo bewunderte. Ein Stereoturm mit Fernseher, DVD-Player, Videorekorder, CD-Spieler und allem, was sonst so dazugehört, war der einzige Luxus dieser Cabaña.


Anderntags machten wir uns früh auf den Weg. Wir wanderten am Grat eines erloschenen Vulkans entlang, von dem wir eine herrliche Aussicht auf den unter dicker Wolkendecke ständig die Farbe wechselnden Kratersee hatten. Dann stiegen wir mit Blick auf eine fast monochrom anmutende grün-braune Landschaft und weite Bergzüge viele Hunderte Meter über versandete Pfade, Wiesen und Blumenmeere, Felsschluchten und Steinkamine ab und erreichten nach einem steilen Aufstieg durch Felder und einige Ansammlungen von strohgedeckten Lehmhütten mit Horden kläffender Köter fünf Stunden später unser Ziel, das Dorf Chugchilán.


Auf dem Dorfplatz fielen wir wenig auf, dort herrschte Markttreiben. Da wir mangels Busse allerdings die Heimfahrt organisieren mussten, kümmerten wir uns wenig um die Stände mit Gemüse, Obst und Fleisch, um ratschende Bauern, zum Verkauf stehende Kühe, Schafe, Lamas und Hühner und schäkernde junge Frauen. Stattdessen füllten wir unsere leeren Mägen mit Hühnersuppe und Reis (vor dem servierten Fleischfetzelchen ungenauer Herkunft und eigentümlicher Konsistenz kapitulierten nicht nur die Messer) und wurden schnell mit dem Herbergsbesitzer über unsere Rückreise nach Latacunga einig. Er verschaffte uns eine Mitfahrgelegenheit im Wagen seines Bruders.


Der kleine Laster transportierte zwei Bullen auf der Ladefläche; ein lebendes Huhn, drei von uns und zwei Ecuadorianer auf einer kniehohen offenen Kanzel über Ladefläche und Fahrerkabine; und schließlich zwei von uns mit dem Fahrer und seinem Vater, einer Frau und ihrem Sohn sowie unsere Rucksäcke in der dreisitzigen Fahrerkabine. Die Rückfahrt in die Provinzhauptstadt dauerte mehrere Stunden, unterbrochen von einer längeren Panne und einer Durchfallattacke meiner belgischen Kollegin Claude, die den Fahrer noch am Ziel in Lachsalven ausbrechen ließ. Nach einem Wechsel in einen ordentlichen Bus landeten wir nachts um halb neun müde und zufrieden wieder am Busbahnhof in Quito.

Auf unserer Wanderung waren wir nur durch eine größere Ansiedlung gekommen, ein Dorf mit etwa einem Dutzend Häuser und einem Fußballplatz. Dort im Laden versorgten wir uns mit Kokoskeksen und Wasser und konnten hautnah erleben, was Indigena-Kultur ist. Am berühmtesten sind die Otovaleñer, die auch in Quito häufig zu sehen sind. Sie gelten als stolz, arrogant und pflegen ihre Tracht. Das wertvollste Stück des Mannes sind seine langen Haare, die er zu einem Pferdeschwanz bindet. Darüber ein dunkler Hut, dazu weiße, weite Leinenhosen und ein dunkelfarbener Poncho. Die Frau trägt einen knöchellangen Rock aus zwei Stoffbahnen in schwarz und blau, eine weiße handbestickte Bluse und darüber eine weiteres Tuch, das sie an einer Schulter zum Knoten bindet. Männer wie Frauen laufen in sandalenartigen Schuhen, die früher aus einer Pflanze gefertigt wurden, heute aber aus Stoff und Gummi sind. Aber die Otovaleñer sind in der Rangordnung der Indigenas nicht deshalb ganz oben, weil sie ihre Kultur bewahren, sondern vor allem, weil sie verhältnismäßig reich und erfolgreiche Geschäftsleute sind – in Ecuador und auf der ganzen Welt.


Dort wo wir hingegen gelandet waren, lebt man von dem bisschen, was die Erde in dieser Höhe abwirft. Die Männer des Dorfes trugen alte, ausgebeulte Hosen und löchrige Pullover; die Frauen die Standardbekleidung aller traditionellen Indigena-Frauen, die keine besondere Tracht tragen: altmodische Slipper, dicke Kniestrümpfe, knielange Röcke, Blusen und Strickjacken, mitunter auch Hut. Sie standen etwas abseits in einer Gruppe beisammen und beäugten uns scheu aus der Ferne. Jeder Versuch, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen, ist zwecklos.

In der Indigena-Kultur ist dem Mann die Initiative – auch die des Einladens – vorbehalten. Und damit dieser sich nicht am Ende dumm vorkommen könnte, sprechen die Frauen so gut wie nicht, nicht einmal auf Anfrage. Die Frau steht unter dem Mann, schleppt oft genug ein Kind im Wickeltuch auf dem Rücken und an jeder Hand ein weiteres und manchmal noch irgendwelche Lasten auf der Schulter. Früher durfte sie ihrem Mann in der Öffentlichkeit nur mit Abstand folgen – auch heute noch sieht man ältere Paare in dieser Konstellation in den Straßen Quitos. Während also jede Kontaktaufnahme mit den Frauen scheiterte, waren die Männer aufgeschlossener, als uns lieb war. Sie hatten auf dem Friedhof gerade einen der ihren unter die Erde gebracht, taten sich dort am Grab an einer hochprozentigen selbstgebrauten Flüssigkeit gütlich, die wir dankend ablehnten, und ließen uns nicht ziehen, ehe wir nicht zumindest jedem die dreckigen Hände geschüttelt hatten.

Allerdings ist Ecuador nicht überall so fremdartig, und nicht alle Ausflüge fielen so abenteuerlich aus. Auf der Busfahrt in das zwei Stunden entfernte Otavalo, das für seinen samstäglichen Ethno-Markt berühmt ist, staunte ich noch über die gigantischen Bergmassen, die Höhe und die ständig ein- und aussteigenden fliegenden Händler, die Getränke, Chips, Schokolade oder Fleischspieße anbieten und dabei manchmal einen halbstündigen Vortrag halten, der jedem Verkaufsseminar einer deutschen Versicherung zur Ehre gereichen würde. Im drei Stunden entfernten schmucken Naherholungsort Baños verzichtete ich auf ein Bad in den Schwefelbädern und radelte stattdessen mit meinem Kollegen durch eine Schlucht mit einer Reihe von tosenden Wasserfällen. Und im sieben Stunden entfernten Atacames an der Küste im Norden Ecuadors schlug ich mir mit meiner italienischen Kollegin Chiara zwei Nächte um die Ohren, ließ mir ohne Erfolg zeigen, wie man Salsa tanzt, frühstückte mittags Espresso und Pizza und schlief mich anschließend am Strand aus.

Aber nicht nur, dass der Ausflug in die Bergwelt bisher die beeindruckendste Exkursion war. Das Wochenende hinterließ auch die bleibendsten Erinnerungen. Zwar hat sich in meiner Wohnung bisher keine einzige Kakerlake blicken lassen. Dafür habe ich aus der Berghütte andere Tierchen mitgebracht. Am Montagmorgen glaubte ich noch, ich litte an Sehstörungen, als ich zwischen mir und meiner Kaffeetasse einen winzigen schwarzen Punkt Saltos in der Luft schlagen sah. Aber im Laufe des Tages mit zunehmendem Juckreiz an allen möglichen und unmöglichen Stellen verfestigte sich der Verdacht zur Gewissheit, dass ich Flöhe eingeschleppt hatte. Die chemische Keule, die ich nach stundenlangen Laufereien durch mehrere Dutzend Apotheken erwarb, hat aber inzwischen ihre Wirkung getan. Und mit meiner neuen toxischen Ausrüstung bin ich nun auch für alle anderen Ziele im Land gewappnet. Dieses Wochenende muss ich allerdings erst einmal verschnaufen: Zu viel unterwegs gewesen die vergangenen Nächte.


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