Mittwoch, 21. Juli 2004

La Mariscal

So schrecklich ich den Kern des Viertels Mariscal, an dessen Rand ich wohne, am Anfang fand, inzwischen habe ich mich mit Gringolandia angefreundet. Wie das kommt? Ich hatte in den vergangenen zwei Wochen erstmals abends nicht wirklich etwas zu tun und bin deshalb nachts so ausgiebig unterwegs gewesen, dass ich tagsüber beim Arbeiten kaum die Augen aufgebracht habe und mir beim Termin mit dem deutschen Botschafter gar vor Müdigkeit fast die Tränen gekommen sind. Der deutsche Botschafter ist in Gringolandia nachts sicher nicht zu finden. Dafür aber angetrunkene Asesores aus dem ecuadorianischen Kongress, Schwarze auf der Suche nach Gringas, die ihnen eine Zeitlang den Lebensunterhalt finanzieren, Latinos und Gringos auf der Suche nach einem Abenteuer für eine Nacht, Prostituierte, Reisende aus der ganzen Welt, Provinz-Ecuadorianer auf Hauptstadtausflug und – auch das – ganz normale Quiteñer aller Altersklassen.

Im Prinzip handelt es sich um exakt eine Straßenkreuzung und ihre Ausläufer, an der sich das Nachtleben der Neustadt ballt. Es ist die Kreuzung des Internetcafés „Papayanet“, an der sich Gott und die Welt verabredet. Während die Ecke tagsüber eher verschlafen und ausgestorben wirkt, sammeln sich dort ab sieben Uhr abends, wenn es schon dunkel ist, Gruppen und Grüppchen, stauen sich auf der Straße plötzlich die Autos, postieren sich Polizisten für den Nachtdienst, tauchen aus allen Winkeln Kinder auf, die Chiglets (Kaugummi) und rote Rosen verkaufen, und weiter unten baut einer täglich seinen Grill auf, dessen nackte Glühlampe später nicht nur die nach Fabrik aussehenden Hotdog-Würstel, sondern auch eine Schlange hungriger Nachtschwärmer in gleißendes künstliches Licht tauchen wird.

„Adonde vamos?“, ist die Standardfrage zu Anfang eines Abends. Dabei ist sie eigentlich überflüssig. An den zwei Straßen ballen sich zwar Diskotheken, Bars, Kneipen und Restaurants. Aber da wir ohne Ausnahme mit unserem Geld haushalten müssen, steht alles, was mehr als drei Dollar Eintritt kostet, praktisch nicht zur Diskussion. Wegen Überteuerung der Getränke steuern wir einige andere Orte nur selten an: Das „Bodegin“ ist ein historisches altes Haus mit gemackvollem Ambiente und Gästen meines Alters und aufwärts, wo die Kellner mitunter die weiblichen Gäste zum Tanzen auffordern und der Wirt gerne selbst zur Gitarre greift, wenn er eine Band zu Gast hat. Das „Varadero“ und „La Bodeguita de Havanna“ bieten jedes Wochenende cubanische Livemusik auf und verwandeln sich dann in dampfende Hexenkessel mit dicht an dicht tanzenden und hopsenden Gästen, die mit einer halb mit Sand gefüllten Plastikwasserflasche den Rhythmus in die Luft schlagen. Etwas gediegener geht es in einer Salsothek im Untergeschoss eines Hochhauses zu, wo sich auf der Tanzfläche die Könner treffen.

Unsere Abende beginnen meist in einer kleinen Kneipe im ersten Stock über einer Diskothek, wo am Wochenende nachts gerne eine grauenhafte Combo ihre Instrumente auspackt, die Getränke billig, die Barmänner zu späterer Stunde ordentlich betrunken und die Hamburger nicht zu empfehlen sind – die verursachen manchmal Probleme mit der Verdauung, und das hat bei mir bisher nicht einmal das Leitungswasser hier geschafft. Wo es dann auch hingeht, am Ende landen wir doch immer im „Sasha“, einer kleinen Hiphop-Diskothek mit grauenhaften Caipirinhas und einem Balkon für diejenigen, denen das alles zuviel geworden ist. Der Ort ist nebenbei auch der Treffpunkt der Schwarzen Quitos. Und wer auch immer nur einen Schwarzen in Ecuador kennen gelernt hat, kann sich sicher sein, dass alle anderen Schwarzen an allen anderen Orten des Landes diesen kennen. Ecuador ist klein, die Gemeinde der Schwarzen noch kleiner.

Wer nun nach einem Donnerstagabend im „Sasha“ anderntags mit dem Nachtbus für das Wochenende an die Küste nach Atacames fährt, wo ich nun nach drei dort verbrachten Wochenenden so schnell nicht mehr hin muss, trifft dort mitunter die gleichen Gesichter wieder. Was auch daran liegt, dass die Küste die Heimat der Schwarzen ist. Atacames ist eine Kopie des Mariscal und gleichzeitig ein bisschen wie Tollwood am Meer: eine Strandkneipe mit tropischen Cocktails und ohrenbetäubender Musik neben der anderen, dazwischen Stände mit Ethno-Artikeln, Fleischspießchen, gebratenen Maiskolben und Kokossüßigkeiten und eine Unzahl von Frauen, die Haare flechten, und Männer, die tätowieren oder piercen. Zwischen Rikscha-Taxen bummeln Unmengen urlaubender Ecuadorianer und in diesen Tagen zusätzlich Horden von Jugendlichen, die dort ihre Abschlussfahrt verbringen. Da kann es dann passieren, dass eine 34-jährige Gringa eine halbe Stunde lang mit einem halbwüchsigen Schüler tanzen muss.

Gewöhnungsbedürftig, aber nicht zu vermeiden in Lateinamerika: Der Mann fordert die Frau zum Tanzen auf, allein rumhopsen ist an vielen Orten eher nicht angesagt, oder zumindest bleibt man selten lange alleine beim Tanzen. Für einen Korb muss man schon einen triftigen Grund finden. Zu empfehlen ist, lieber mit einem Kotzbrocken ein Lied in Ehren hinter sich zu bringen, dann gibt der wenigsten Ruhe für den Rest des Abends. Aber natürlich nicht, ohne vorher die fünf W-Fragen losgeworden zu sein: Woher kommst Du, wie heißt Du, wie lange bleibst Du, was machst Du hier, hast Du einen Freund? Variationen gibt es nicht, nicht einmal in der Reihenfolge.

In Quito könnte man seine Nächte natürlich auch außerhalb des Mariscal verbringen. Allerdings kostet das zusätzlich die Taxifahrt, während ich in der Neustadt zu Fuß nach Hause gehen kann. In der Altstadt ist es hingegen nachts so gefährlich, dass jeder Meter zu Fuß das Leben kosten kann. Dort steigt man nachts sogar erst dann in ein Taxi, wenn der Fahrer den Namen der Person gesagt hat, die ihn telefonisch gerufen hat. Taxiklau ist nicht selten – nicht wegen der Autos, sondern als Mittel zum Zweck. Dabei gibt es auch in der Altstadt nette Orte, etwa das „Casa de la Peña“, ein verwinkeltes Kolonialgebäude mit Patio und langer Geschichte, das eine Gruppe junger Kolumbianer hergerichtet hat und nun betreibt. Das Lokal bietet nicht nur hervorragende Livemusik an den Wochenenden, sondern immer auch wieder so etwas wie Kabarett. Sozusagen das alte kino von Quito – allerdings mit erheblich gesalzeneren Preisen.

Wer nun allerdings meint, in Quito die Nacht durchzechen und -tanzen zu können, der irrt gewaltig. Während in München erst kürzlich die Aufhebung der Sperrstunde beschlossen wurde, muss hier in der ecuadorianischen Hauptstadt jedes Lokal punkt zwei Uhr schließen. Aber natürlich wäre das nicht Lateinamerika, wenn es nicht auch dafür eine Lösung gäbe. Die ein oder andere Bar sperrt ihre Gäste ein. Und wenn selbst dort kein Bleiben mehr ist, gibt es immer noch die „clandestinos“, die sich in der Regel hinter unscheinbaren heruntergezogenen Rolläden verbergen und die man frühestens zum Frühstücken verlässt. Zu empfehlen ist dann nach durchzechter Nacht eines der beiden Nationalgerichte: Encebollada (deftig gewürzte dunkle Fischsuppe) oder Ceviche (mit Essig, Öl und Zitronensaft marinierte und mit Tomaten, Kräutern und Zwiebelringen garnierte rohe Meeresfrüchte). So etwas schmeckt natürlich am besten an der Küste, etwa in Sua, dem etwas familiäreren und ruhigeren Nachbarort von Atacames. Ein solches Frühstück am „Volksküchen“-Tisch mitten auf der staubigen Straße mit Blick auf das Meer - und auch dieser Tag ist Dein Freund.

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