Freitag, 6. August 2004

Hasta la victoria siempre




Wenn durch die Fenster im achten Stock mal wieder Sprechchöre in das Büro von Amnistía dringen, reagiert inzwischen kaum mehr jemand von uns. Wir haben uns daran gewöhnt, dass an manchen Tagen drei verschiedene Demonstrationen im Abstand weniger Stunden über die 10 de Agosto in Richtung Kongress ziehen. Vor einigen Wochen war das täglich der Fall. Die Indígenas wollten wie vor zwei Jahren einen Regierungswechsel erzwingen. Im ganzen Land sperrten sie die Hauptverbindungsstraßen, organisierten Protestmärsche und Arbeitsniederlegungen – dieses Mal allerdings ohne Erfolg. Da der Präsident, dem sie 2002 ins Amt verholfen hatten, schlauerweise Vertreter der Indígenas in seine Regierung geholt hat, sind sie inzwischen so zerstritten, dass sie es nicht mehr schaffen, ihre eigenen Leute, geschweige denn das ganze Land zu mobilisieren. Und wenn nicht die Indígenas über die 10 de Agosto ziehen, fordern dort die Revolutionäre Jugend Ecuadors mit roten Che-Guevara-Fahnen einen besseren Bustransport zur Schule oder die Rentner eine Erhöhung ihrer monatlichen Zuwendung. Die Alten kämpfen inzwischen sogar mit Hungerstreik für mehr Geld, in den vergangenen zwei Wochen sind 14 von ihnen an der Aktion gestorben.

Wenn es also irgendwo Protestkultur gibt, dann hier in Ecuador und in ganz Lateinamerika. Das haben die Latinos in den vergangenen zehn Tagen in zwei Veranstaltungen noch einmal gesondert unter Beweis gestellt. Zuerst haben sich vier Tage lang Vertreter der Indígenas von Alaska bis Feuerland in Quito getroffen, ihre Einheit beschworen, obwohl sie sich im Grunde nicht ausstehen können, und ordentlich mobil gemacht für Chavez und Cuba und gegen Rassismus, Neoliberalismus, Imperialismus, Kapitalismus, die Vereinigten Staaten, Transnationale Firmen, TLC und Globalisierung. Täglich um 5.30 Uhr entzündeten sie auf dem Dach einer katholischen Mädchenschule das heilige Feuer und grüßten die Sonne, Norden und Süden, Osten und Westen, Erde und Himmel und Berge und Bäume und alles, was es sonst noch gibt – jeden Tag nach dem Ritual eines anderen Teil des Kontinents. Dann wurden gemeinsam Erbsen für das Frühstück gepult. „Wer nicht hilft, isst nicht“, schrie Organisatorin Blanka Chancoso und achtete darauf, dass sich keiner der mehreren hundert Teilnehmer und Journalisten drückte.







Anschließend – mit ordentlicher Verspätung von durchschnittlich zwei Stunden – wurde über Autonomie und Selbstbestimmung, Plurinationalität und nachhaltige Entwicklung, über geistiges Eigentum, die Rechte der Indígenas, ihre Teilhabe an Politik und Gesellschaft und deren Militarisierung gesprochen. Was in der Resolution zum Abschluss exakt steht, weiß ich allerdings nicht. Als sich am letzten Tag spätnachmittags die Teilnehmer zu einer Protestkundgebung sammelten, hatten sie die Pressekonferenz einfach ohne Erklärung ausfallen lassen. Auf das Mail, das mir fest versprochen wurde, warte ich bis heute. So sind sie, die Latinos – wenn man denn die Indígenas als Latinos bezeichnen kann. Dafür habe ich jetzt eine Kontaktadresse in Chiapas/Mexiko, kenne den Chef der größten Indígena-Bewegung in Ecuador und eine der indigenen Führerinnen im Kampf Venezuelas für Chavez.








Die Protestkundgebung der Indígenas am letzten Tag ihrer Zusammenkunft führte zur Plaza San Francisco in der Altstadt, wo übergangslos gerade der nächste Gipfel begann, das Foro Social de las Américas, das Weltsozialforum für den Kontinent, das unter dem Motto stand: „ein anderes Amerika ist möglich“. Nach einem eher kulturellen Auftakt trafen sich mehrere tausend Menschen von Alaska bis Feuerland täglich in drei Universitäten Quitos und im Casa de la Cultura, um dort über Demilitarisierung, Auslandsschulden, Alternativen zur neoliberalen Globalisierung, Welthandel, Menschenrechte, sexuelle Diversität, soziale Bewegungen, Plan Colombia, ALCA, Gleichberechtigung, Weltbank, Friede, Freiheit und Eierkuchen zu reden. Höhepunkt war ein mehr als dreistündiger Marsch durch die gesamte Stadt mit kommunistischen, antikapitalistischen und -imperialistischen Parolen und Sprechgesängen wie „Hu, ha, Chavez no se va“ (Chavez tritt nicht ab) oder „Coca Cola asesina“ (Coca-Cola tötet). Am Anfang gab es an der amerikanischen Botschaft ein bisschen Trubel mit der Polizei, am Ende ein bisschen Reizgas. Aber insgesamt verlief doch alles friedlich. Allerdings ist die Demo-Route nun an den Schmierereien an den Hauswänden zu erkennen.







Von den vielen interessanten Themen und ebenso vielen Sprechblasen, die in den Seminaren, Konferenzen und Workshops des Foros von sich gegeben wurden, habe ich leider nur den kleinsten Teil mitbekommen. Auch am Stand von Amnestía in der Universidad Salesiana war ich eher selten Gast, und wenn dann eher, um mir an den angrenzenden Ständen Ceviche, Empanadas oder Fisch-Kroketten und Schokoladenkuchen zum Mittagessen zu kaufen. Ich war voll und ganz damit beschäftigt, die AI-Delegation aus London, Paraguay, Uruguay, Peru und Argentinien medial zu vermarkten und die Termine zu koordinieren und kämpfte dabei unter anderem ordentlich gegen die Angewohnheit der sieben Frauen, die extra beschafften Mobiltelefone nicht einzuschalten, und ihren Unwillen, jeden Tag um sechs Uhr oder noch früher aufzustehen. Aus irgendeinem Grund machen Radios und Fernsehstationen ihre Interviews immerzu morgens zu fast nachtschlafener Zeit. So verging also kein Tag, an dem ich nicht spätestens um sieben im Hotelfoyer stand, um die Damen zu diversen Studios zu begleiten. Während ich dann untertags unzählige 10-Dollar-Karten mit meinem Handy vertelefonierte, besuchten die Delegierten eine Veranstaltungen nach der anderen, um Kontakte zu sammeln. Abends um neun gab es noch mal Besprechung. Und hinterher wollte die Gruppe natürlich etwas essen oder gar ausgehen.



So habe ich es außer zu einem Seminar und einer Videovorführung über den Plan Colombia und einer Versammlung zu dem Thema Frauen in der Indígena-Bewegung nur mit dem Chef von „Opción“ ins Nationaltheater geschafft, um am Festabend für Kuba teilzunehmen. Dort wurden vor 2000 Zuhörern Texte von Fidel und Che gelesen, Reden gehalten, die mit „hasta la victoria siempre“ endeten, rote Fahnen geschwungen, Solidaritätsadressen für die fünf inhaftierten Cubaner in den USA abgegeben, und dazwischen durften ein paar alte cubanische Barden schmonzige Lieder singen. Auch wenn eher nüchterne Zeitgenossen in Deutschland jetzt lachen mögen, aber nach all dem Zynismus in Europa ist so ein bisschen linker Idealismus in Lateinamerika doch sehr erfrischend. Ehrlich gesagt, der Abend war richtig ergreifend. Hier muss man sich nicht für sein bisschen laues Links-Sein schämen, hier muss man sich höchstens für seinen Mangel an Radikalität genieren.




Zum Abschluss des Foros am vergangenen Freitag habe ich es schließlich noch fertiggebracht, dass der deutsche Botschafter den Stand von Amnistía besuchte und dort seine Unterstützung für unsere Kampagne „Stoppt Gewalt gegen Frauen“ zum Ausdruck brachte, indem er unter diesem Slogan seinen Handabdruck in Farbe auf einem großen Leintuch verewigte – neben vielen anderen farbigen Handabdrucken. Und ein Gespräch mit einer der Delegierten aus London führte, das diese in den siebten Himmel versetzte. „Zum ersten Mal ist es passiert, dass jemand anbietet: Sag, was ich machen soll, und ich mache es“, schwärmte die Spanierin. Einziges Manko der Aktion: Trotz hoch und heiliger Versprechungen sämtlicher Tageszeitungen in Quito ist natürlich kein einziger Journalist erschienen. Wie auch – als Redakteurin hätte mich das auch nicht interessiert.




Aber ich war zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon nicht mehr ganz Herr meiner Sinne. Die Woche war ziemlich anstrengend gewesen. Unter anderem habe ich – außerhalb des Foros – ein Interview mit der Tochter von Che Guevara geführt. Und zu allem Überfluss war ich am Vortag bis sechs Uhr morgens unterwegs gewesen, um nach drei Stunden Schlaf aufzustehen und einen Artikel für „Opción“ zu schreiben. Als sich dann am Freitagabend in der Disko die 24-jährige Amelie schon um eins verabschiedete und ich – inzwischen wieder topfit – eine dumme Bemerkung machte, von wegen Jugend und so, antwortete die französische Kollegin frech: „Wenn Du so weitermachst, wirst Du dieses Jahr in Lateinamerika nicht überleben.“ Ich hoffe natürlich schon.

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