Freitag, 3. April 2009

Brot oder Museum

Nach einem Krieg steht jede Gemeinschaft vor der Frage: Erinnerung oder Vergessen? Als Salomón Lerner diesen Satz sagte, war er davon überzeugt, dass sich Peru für die Erinnerung und damit für die Wahrheit entschieden hatte. Nach 20 Jahren Krieg gegen die maoistische Terrorgruppe Leuchtender Pfad und die Guerillabewegung MRTA hatte das südamerikanische Land 2001 eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingerichtet und den Philosophieprofessor Lerner zum Präsidenten gemacht.
Doch welche Erinnerung ist Wahrheit? Als die Kommission zwei Jahre später ihren Bericht vorstellte, war der Bürgerkrieg zu Ende, aber der Kampf setzte sich fort. Seither geht es um die Deutungshoheit über die Ereignisse. Auf der einen Seite finden sich die Hauptstadteliten, auf der anderen die Landbevölkerung. In der Regel sind die einen weiß, die anderen sind es nicht. Die einen haben die Macht, die anderen haben sie nicht. Und so soll es – nach dem Willen der einen – am besten auch bleiben.
Deutschland will nun im Rahmen der Entwicklungshilfe für das südamerikanische Land den Aufbau und Unterhalt eines Gedenkmuseums für die Opfer des Bürgerkriegs mit zwei Millionen Dollar unterstützen. Das Angebot verärgerte den peruanischen Staatspräsidenten Alan García. Seinen Widerstand brach erst in dieser Woche Mario Vargas Llosa. Während andere sagten, das Volk brauche Brot statt Museen, hatte der Schriftsteller dem Präsidenten vorgeworfen, dumm, ungebildet und ignorant zu sein. Nun wird er das Komitee leiten, das die Verantwortung für Design und Bau des Hauses übernehmen soll.
Lerner schmerzte an der anfänglichen Ablehnung vor allem die Geringschätzung der Opfer. Unter seiner Leitung war die Wahrheitskommission zu dem Schluss gelangt, dass während des Bürgerkriegs fast 70 000 Menschen ums Leben gekommen waren. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde von Anhängern des Leuchtenden Pfads ermordet, ein geringer Teil wird der MRTA angelastet, und für 42 Prozent der Verbrechen sind das Militär und die Polizei verantwortlich. Die meisten Opfer waren quechuasprachige Bauern aus den Hochanden. Deren Sterben blieb in der Hauptstadt lange so unbemerkt wie zuvor ihr Leben.
In Lima fiel der Krieg erst auf, als wegen der Anschläge auf Hochspannungsmasten immer öfter der Strom ausfiel, sich Entführungen häuften, eine Bombe hochging und Flüchtlinge in die Stadt drängten. Dass Soldaten ganze Andendörfer massakrierten und Todesschwadronen Oppositionelle umbrachten, gilt heute noch vielen als verzeihlich. „Die Wahrheitskommission muss endlich verstehen, dass ihre Erinnerung nicht unsere ist”, schreibt ein Peruaner im Internet und wettert im selben Atemzug gegen den in Berlin ausgezeichneten Film „La Teta Asustada” der peruanischen Regisseurin Claudia Llosa, der diese Gewalt thematisiert.
Die Helden dieser Peruaner sind die Soldaten und Polizisten und der frühere Staatspräsident Alberto Fujimori, der sich den Sieg über den Terrorismus zuschreibt. Doch Fujimori steht wegen seiner Anti-Terror-Politik gerade vor Gericht, Mitte April wird das Urteil erwartet. Während der Staatsanwalt wegen Massakern, Korruption und anderer Delikte 30 Jahre Haft fordert, erklärt sich der japanischstämmige „Chinese”, so sein Spitzname, für unschuldig. Tochter Keiko hofft auf einen Sieg bei den nächsten Präsidentenwahlen.
Erstaunlich, dass es überhaupt zu diesem Prozess gekommen ist. Während die Anführer der Terrorgruppen fast alle in Haft sind, wurden kaum Täter aus Militär und Polizei verurteilt. Im Gegenteil: Im Herbst legte die Regierungspartei ein Amnestiegesetz für Soldaten und Polizisten vor, das immer noch nicht vom Tisch ist. Auch dem jetzigen Präsidenten Alan García wird vorgeworfen, während seiner ersten Amtszeit 1985 bis 1990 politisch für Gräueltaten der Streitkräfte verantwortlich gewesen zu sein – was seine Renitenz erklären mag.
Die Opfer aber warten nicht nur auf Gerechtigkeit, sondern auch auf Wahrheit und Entschädigung. Noch immer suchen Menschen nach ihren Angehörigen, werden Massengräber ausgehoben. Die Aufstellung des Opferverzeichnisses kommt nicht voran. Das mag auch daran liegen, dass in der zuständigen Kommission das Militär vertreten ist. Jeder Fall wird einzeln überprüft, um zu verhindern, dass Angehörige von Terroristen Entschädigung erhalten. Alan García schlug sogar vor, Ex-Terroristen nach der Haftentlassung öffentlich an den Pranger zu stellen. Als Rechtfertigung galten ihm die etwa 300 Bewaffneten, die heute noch im Namen des Leuchtenden Pfades in den Kokaanbaugebieten dreier Flüsse operieren.
Die Aufarbeitung der Gewalt stockt, und die Regierung nimmt auch andere Empfehlungen der Wahrheitskommission nicht so ernst. Trotz des phänomenalen Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre, das den hohen Rohstoffpreisen zu verdanken war, haben die Bauern auf dem Land nicht genug zu essen.
Die Wahrheitskommission schrieb, dass Peru erst dann von Frieden sprechen könne, wenn Gleichberechtigung und Solidarität Armut, Diskriminierung und Gleichgültigkeit besiegt hätten. Davon ist das Land weit entfernt. Das Museum ist eine Chance für eine neue Erinnerungskultur, die auch die Ausgegrenzten einschließt. Erst wenn die Peruaner die Leiden ihrer Landsleute anerkennen, wird es Versöhnung geben.

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