Donnerstag, 9. April 2009

Der ganz normale Wahnsinn

Am Gründonnerstag bin ich schon um acht im Büro. "Horario continuo" hatte die Regierung für alle öffentlichen Angestellten im Land verhängt: eine halbe Stunde früher anfangen und um drei ins Osterwochenende gehen. Ich freue mich tierisch.

Um zehn nach acht steht mein Chef Gonzalo im Wintermantel in der Tür meiner unwirtlichen Höhle und winkt mit dem Arm: "Wir gehen das gleich durch, ich muss nur vorher zum Arzt." Begrüßungsküsschen auf die Backe, er verschwindet.

Was er mit mir durchgehen will: Mit der widerwilligen Hilfe der Regionalbüros hatte ich für die zwei letzten Märzwochen eine detaillierte Liste aller Konflikte im Land zusammengestellt. Monitoring nennt sich das.

Tatsächlich hat es in dieser Zeit 110 Konflikte gegeben, in denen ein Akteur tätig geworden war. Dorfbewohner stürmten Bergwerke und Rathäuser und setzten Bürgermeister ab, eine wütende Menge warf einen Ex-Präsidenten aus seinem Haus und dem Dorf, Studenten entführten einen Unidekan, es gab Protestmärsche, Streiks und Hungerstreiks, Demonstrationen mit nacktem Oberkörper, Tränengas. Ach, und vom Wahlgesetz wollen wir gar nicht sprechen: Es wird zurzeit im Parlament verhandelt, und Präsident Evo ist wegen des Streits darum gerade in Hungerstreik getreten.

Um elf ist mein Chef nicht wieder aufgetaucht, aber ich bin zu einer Not-Besprechung der "Comunidad de Practica y Dialogo" gerufen worden, einem Bündnis von Organisationen, die in der Konflikttransformation tätig sind. Mit dem Kollegen Hector und der Defensora höchstselbst hören wir uns die Analyse des Konflikts um das Wahlgesetz an. Von Bürgerkrieg ist die Rede. Totale Übertreibung.

Es geht um die Frage: Soll sich die Comunidad de Practica einschalten in diesen Konflikt? Man redet über lang-, mittel- und kurzfristige Aktionen, einigt sich auf dies und das, da verschwinden Hector und die Defensora eilig unter Entschuldigungen. Die Auto-Importeure kämpfen seit Dezember gegen ein Gesetz, das ihnen die Einfuhr von alten Schrottkarren verbietet, bei der heutigen Demo gab´s mal wieder Tränengas und Verletzte.

Muss also plötzlich Defensoría del Pueblo und DED vertreten und leider sagen, dass die Deutschen ohne Einwilligung der Botschaft überhaupt nichts unterschreiben können. Kein Problem, bis 15 Uhr bekämen wir Zeit, um den geplanten öffentlichen Aufruf zu Verhandlungen und friedlichem Verhalten abzustimmen.

Raus aus der Sitzung, im Taxi zur Defensoría, hoch in den dritten Stock zu Gonzalo.

- "Doc, wir können jetzt die Konfliktliste durchgehen."
- "Jetzt kreuzt sich alles, habe gleich Verhandlung mit den Studenten, die die Uni besetzt haben."
- "Solange die nicht da sind, können wir ja schon mal anfangen, oder?"
- "Ok, bei Dir unten."

Gonzalos Telefon klingelt. "Ja ja, sofort rede ich mit der Kollegin." Ich verfolge den Chef durch den gesamten dritten Stock, damit er nicht vergisst, dass er mit mir arbeiten will. Das schaffen wir dann auch. Gonzalo greift sich als erstes lachend die Kekse auf meinem Schreibtisch, er ist auf Diät, und los geht´s.

Nachdem wir die Hälfte geschafft haben, unterbricht uns Kollegin Ximena.

- „Doc, oben haben sie schon angefangen."
- "Sag Bescheid, wenn Sie anfangen", antwortet der Chef.
- "Nein, Doc. Die haben schon angefangen."
- "Uggh, wenn wir da nicht hingehen, sind sie wieder sauer."

Ich schaue auf die Uhr und ahne zum ersten Mal, dass das mit dem Dienstschluss um drei nichts wird.

Oben im Besprechungsraum sitzt unser Bote Don Fidel mit den restlichen acht Frauen der Abteilung. Sie lesen aus der Bibel. "Unseren Richter finden wir im Jenseits", sagt die feministische Kollegin, die für das Thema Frauen zuständig ist. Ich drifte weg und tauche erst wieder auf, als das Gründonnerstagsessen aufgetischt wird: Maiskolben, Kartoffeln und ein Sud aus Zwiebeln, Käse und Bohnen.

Auch Hector ist zurück. Er hat die verletzten Auto-Importeure ins Krankenhaus gebracht, nun schaufelt er schweigend das Mittagessen in sich rein, das eine der Kolleginnen wegen Ostern für die Abteilung gekocht hat. Die Sekretärin ruft Gonzalo raus, im Nachbarzimmer sitzen die Anführer der Auto-Importeure. Hector weist die Sicherheitsleute im Erdgeschoss an, die Türen zu versperren, damit die Demonstranten unten auf der Straße das Gebäude nicht stürmen können.

Da fällt mir die deutsche Botschaft wieder ein. Artiges Dankesagen bei den Frauen, runter ins Erdgeschoss. Ich hab kein Internet, der DED-Chef keinen Handyempfang. Wälze die Abstimmung auf meinen deutschen Koordinator in Sta Cruz ab, den ich beim Mittagessen störe.

Es ist zehn vor drei. Ximena packt zusammen, im Gang hört man die Kollegen, die ins Wochenende gehen. Gonzalo kommt rein.

- „Ich kann jetzt nicht“, sagt er. „Die Studenten sind oben.“ Er sieht mein Gesicht.
- „Pläne für den Nachmittag?“
- „Mmmh.“
- „Bis wann?“
- „Halb sechs.“
- „Komm um halb sechs wieder, bis dahin bin ich auch fertig. Ruf an, sobald Du wieder da bist.“

Das Handy piepst. Meine Verabredung ist geplatzt. Gehe auf die Straße, wo sich immer noch die Auto-Importeure drängeln, eine Zigarette rauchen, schreibe meinen freien Nachmittag ab und setze mich wieder an die Arbeit. Um sechs drucke ich die Reinfassung aus. Im dritten Stock verhandeln sie immer noch wegen der Studenten. Ich gehe rein, lege Gonzalo die 28 Seiten mit einem Zettel hin: „Habe den Nachmittag doch gearbeitet und gehe jetzt. Schönes Osterwochenende.“

Als ich auf den Aufzug warte, löst sich die Besprechung auf. Ich kehre um. Höre den Chef auf dem Klo telefonieren. Er verhandelt mit einer seiner Ex-Frauen den Unterhalt einiger seiner fünf Kinder. Kommt raus, sagt: „Nicht mal in Ruhe pinkeln kann man.“ Lacht. Wird ernst.

- „Ja, dann setzen wir uns jetzt hin und schreiben noch die Analyse.“
- „Gonzalo?"
- „Ja?"
- „Es ist sechs!“
- „Mmmmh. Montagmorgen, ganz in der Früh!“
- „Alles klar, bis Montag dann.“

Packe zusammen und renne die 20 de Octubre runter ins Fitnesscenter. Die Sportstunde fällt aus. Der Trainer fand keinen Bus, außerdem hat er Geburtstag. Gehe ein Bier trinken. Und sage zu Gudrun: „Weißt Du, das ist der erste Job seit 15 Jahren, der mir Spaß macht.“

1 Kommentar:

Sebastian Schoepp hat gesagt…

Der letzte Satz ist der schönste