Dienstag, 31. Juli 2007

Lima im Juli

Dass mir keine Schwimmhäute wachsen, kann nur an der Kälte liegen. Ich sitze mit dem Wintermantel auf dem Sofa, den warmgelaufenen Laptop auf den Knien, die Füße auf meinem Gasofen. Dabei schaue ich den Schatten der Heizungswarmluftwirbel auf meinem Wohnzimmerfliesen zu, niese und höre „Los años maravillosos de la canzion social“, Revolutions-lieder aus einer wunderbaren Zeit, als man noch Revolution machen konnte und nicht im partizipativen Stil mit Genderansatz, Wirkungsanalysematrixen, Tranversalthemen und interkulturellen Kompetenzen in Kleinkrümelbröckchen versucht hat, gewaltlos gegen Betonkopfstrukturen und Ungerechtigkeit zu kämpfen. Manchmal brauch ich das, damit ich nicht vergesse, warum ich hier bin.

Seit Monaten gibt es regelmäßig Triumphnachrichten: Zehn Prozent Wirtschaftswachstum. Die Goldpreise steigen, die Ölpreise steigen, die Investitionen steigen, der Reichtum steigt und die Staatseinnahmen auch. Alles super. „Bacán!“, sagt man hier. Nur: Die Mehrheit der Peruaner spürt gar nichts von diesem Wirtschaftswachstum. Die Agrarpreise fallen, aber nur für die kleinen Produzenten, das Brot hingegen kostet schon wieder drei Pfennig mehr, und der Mais ist auch teurer geworden, die Benzinpreise ziehen an und die seit Ewigkeiten versprochenen Straßen-, Wasser- und Abwasserprojekte werden nicht verwirklicht. Woran liegt das? Bei einer dreitägigen Recherchereise mit meinem Kollegen Miguel über informelle Minenaktivitäten durch die abgelegenen Weiler bei Piura im Norden des Landes habe ich einige erhellende Antworten erhalten.

Im Rathaus von Las Lomas erklärten uns der Bürgermeister und die Gemeinderäte, was sie alles gegen die Probleme unternommen haben, die der handwerksartige illegale Bergbau in Ein-Mann-Unternehmen mit sich bringt. Sie haben diskutiert, wurden auf Versammlungen zitiert, haben Protestnoten unterzeichnet und Verordnungen erlassen zu Themen, die nicht in ihre Zuständigkeit fallen. Was sie nicht gemacht haben: All das, was rechtlich tatsächlich in ihrer Macht liegt. Baugenehmigungen, Firmenzulassungen, Steueranmeldungen prüfen.

Der Bürgermeister ist Mediziner, hat sein Amt im Januar angetreten. Er ist symphatisch, gebildet, bemüht, korrekt, herzlich und hat keine Ahnung von den administrativen Regeln, den Gesetzen, seinen Kompetenzen. In den anderen sechs Rathäusern, in denen wir waren, ist es nicht anders zugegangen. Las Lomas ist als Distrikt die unterste staatliche Ebene. Der Bürgermeister hat seine meuternden Bürger vor der Tür, von denen ihn für Peru sehr stolze 20 Prozent gewählt haben, und er fühlt diese Last auf seinen Schultern. Es gibt keine Raumordnung, keine Flächennutzungspläne, keine Repräsentation auf den höheren Ebenen. Der Mann weiß nicht ein noch aus, ist einfach nur hilflos.

Immerhin: Früher hatte diese kleineste lokale Einheit nicht mal ein ordentliches Budget. Das wurde alles von Lima aus geregelt. Inzwischen haben die „Dörfer“ sogar einen Haushalt. Dorf in Anführungszeichen, weil das Dörfer sind, zu denen durchschnittlich geschätzte vierundvierzig Weiler gehören, auf einer Fläche, die jeweils mindestens so groß ist wie ein deutscher Landkreis. Peru war immer das zentralistischste Land auf dem Kontinent. Jetzt wird zwar langsam ein bisschen Kompetenz von Lima auf die unteren Ebenen überwiesen. Aber die Bürgermeister, Provinzchefs und Regionspräsidenten wissen gar nicht, wie man Geld ausgibt. Deshalb kann es passieren, dass in einem Andendorf ohne fließendem Wasser ein Schwimmbad gebaut wird.

In Las Lomas sind sie Bauern. Die Gegend ist berühmt für ihre Mangos und die Zitronen, der Ort gehört zu einem der größten landwirtschaftlichen genutzten Täler Perus. Erst vor kurzem haben sie dort in Tambogrande die Ansiedlung eines internationalen Goldminenkonzerns verhindert, dem die komplette Landwirtschaft zum Opfer gefallen wäre. Der Staat hatte die Konzession gegen seine eigenen Regeln vergeben. Aber jetzt haben sie die ganzen illegalen Ein-Mann-Bergbauunternehmer im Dorf, und es steht ein neues Megaprojekt zum Kobaltabbau in der Nachbarschaft an. Das größte Minenprojekt Lateinamerikas. Es gibt praktisch keinen Ort in Peru, für den es nicht irgendeine Lizenz zum Buddeln gäbe für irgendwelche ausländischen Unternehmen - und neuerdings haben sie auch noch Uran gefunden an mehreren Stellen.

Aber wie sieht das aus, wenn so ein großes Unternehmen anfängt zu arbeiten? In Casapalca, wo mich die Minenarbeiter kürzlich zu einer Mördertour durch die Anden zwangen, weil sie die einzige Straße vom Hochland nach Lima blockiert hatten, folgendermaßen: Es gibt ein paar wenige Dutzend Planstellen, die tausend Minenarbeiter aber werden durch Schein-Subunternehmen angeheuert. Dort kriegen sie keine oder kaputte Ausrüstung für unter Tage, ein fauliges Bett in einem Sieben-Mann-Zimmer in einem Schuppen und pro Schicht kaum zehn Dollar, von denen ihnen aber Unterkunft und Essen abgezogen werden. Urlaub? Gewerkschaft? Kündigungschutz? Da lacht die Arbeitsministerin. Das Unternehmen erklärte kategorisch, für Verhandlungen nicht zur Verfügung zu stehen. Es gehört ausnahmsweise keiner anonymen Aktiengesellschaft, sondern einem einzigen Mann und seiner Familie. Er ist Multimillionär.

Auf meiner Tour über die Anden bin ich auch durch La Oroya gekommen. Der Ort liegt auf über 4000 Metern. Es ist der kontaminierteste Ort der Welt, sagte kürzlich eine Statstik. Die Bleiwerte der Kinder liegen um ein Vielfaches über jedwedem Grenzwert. Die Bleiraffinerie gibt es seit Jahrzehnten, und wieder hat sie jetzt den Einbau von Filteranlagen verhindert mit der Drohung, die Anlage stillzulegen. Die Drohung hat unter den Oroyanern heftige Kämpfe ausgelöst. Denn die Situation ist komplex. In La Oroya sind die Bauern gegen die Mine, aber die Minenarbeiter sind dafür. In Las Lomas sind es die Tagelöhner und die armen Bauern aus dem selben Dorf, die auf der Suche nach Gold mit Pickeln Steine aus der Erde klopfen, sie mit Muskelkraft mahlen und dann mit Chemikalien mischen und dabei das Wasser kontaminieren. Und klar: Es sind die Bergwerksunternehmen, die diese zehn Prozent Wirtschaftswachstum angeschoben haben.

Und da komm dann ich daher. Mit Gewalttheorien, Konfliktkonzepten und Mediationsanleitungen.

Am letzten Tag der Recherchetour mit meinem Kollegen Miguel im Norden Perus versperrten uns etwa hundert aufgebrachte Bauern den Weg. Sie wollten erzwingen, dass die Defensoría del Pueblo jetzt und auf der Stelle mit ihnen über ihre Probleme spricht. Aber wir mussten unseren Flug nach Lima erwischen. In mir stiegen die Beschreibungen des Lynchmords eines Bürgermeisters aus den Anden im Jahr 2005 hoch, als die Meute anfing zu stänkern: Die Defensoría ist die Verteidigerin des Volkes, und wir sind das Volk, also verteidigt uns!! Und was braucht Ihr ein so großes Auto dafür? Und warum habt Ihr eine blonde Minenbesitzerin aus den USA bei Euch im Wagen sitzen? Ihr steht wohl auf der falschen Seite? Ohhh, da wurde ich ganz klein.

Als wir hier im Juli das ganze Land im Aufruhr hatten und bei den Generalstreiks und Blockaden in einer Bergregion mehrere Menschen erschossen wurden und ein ganzer Bus mitsamt Insassen in den Abgund raste und die Menschen forderten, dass der zuständige Minister für Verhandlungen kommen soll über ein Dutzend Themen, die alle etwas mit der Armut und der Nichtpräsenz des Staates zu tun hatten, da gab es darüber ein Telefonat zwischen meinem Chef und der zuständigen Vizeministerin. Da sagte diese Vizeministerin dem Sinne nach: Ach nee, was soll denn das, das sind doch nur ein paar Cholos. Cholo ist das Schimpfwort für die Peruaner indianischer Abstammung aus dem Hochland.

Na ja, wenn wir in diesen wunderbaren Zeiten dieser wunderbaren Revolutionslieder leben würden, dann wäre manche Antwort um so vieles einfacher...

Keine Kommentare: