Donnerstag, 27. November 2008

Gewaltige Bilanzen

Gelassenheit hilft ja manchmal ungemein. Das Auto, das ich auf einer ohnehin anstehenden Recherchereise nach Santa Cruz überführen sollte, stand immer noch kaputt in der Werkstatt. Also machte ich mich Montagmorgen um halb sechs mit dem Bus auf den dreieinhalbstündigen Weg nach Oruro. Am Dienstag, nachdem dort alle Termine absolviert waren, stellte sich bei einem Anruf in Cochabamba in allerletzter Minute heraus, dass der dortige Hauptgesprächspartner entgegen der Abmachungen irgendwo in Bolivien unterwegs ist. So kehrte ich also Dienstagnacht schon wieder nach La Paz zurück. So schnell wird aus einer einwöchigen Reise ein zweitägiger Ausflug.
Ausflug ist gut gesagt. Das Bergarbeiterstädtchen Oruro, das sich auf einer Hochebene auf 3800 Metern an einen Zinnhügel schmiegt, ist nicht gerade ein herausragendes Touristenziel. Tagsüber brennt die Sonne herunter, nachts ist es kalt. Wie überall in Bolivien sind die meisten Häuser weder verputzt noch gestrichen, weil sonst mehr Steuern fällig wären. Bäume gibt es nur auf den zwei Hauptplätzen. Dort ist es recht gemütlich – so lange man nicht daran denkt, dass diese im Fasching von betrunkenen Massen gestürmt werden. Der Karneval von Oruro wurde von den Vereinten Nationen sogar zum Weltkulturerbe erklärt.
Aber Karneval interessiert mich nicht, und außerdem war ich wegen der Konflikte da.


Die Defensoría del Pueblo, die den bolivianischen Staat auf die Einhaltung der Menschenrechte überwacht, tritt seit sieben Jahren in sozialen Konflikten des Landes als Vermittlerin auf. Weil die Institution glaubwürdig ist, wird sie zum Schlichten gerufen. Wie man das macht, haben die Kollegen gelernt, indem sie es machten. Jetzt wollen sie aber nicht mehr die Feuerwehr spielen, die gerufen wird, wenn es die ersten Toten gibt. Sie wollen vorbeugend eingreifen. Dazu brauchen sie jemanden, der ihre Erfahrungen und die Konflikte systematisiert und ihnen beim Aufbau eines Frühwarnsystems hilft. Dieser jemand, der wär jetzt ich.
Da saß ich also im Regionalbüro der Defensoría in Oruro und ließ mir von dem Kollegen Juan Carlomagno den Konflikt von Santa Maria schildern. Weil ich nach zweieinhalb Stunden mehr Fragen hatte als Antworten, stiefelte ich kurzentschlossen in die Präfektur, um den Generalsekretär zu interviewen. Das wäre in Deutschland, sagen wir mal, der Staatskanzleichef.
„Der ist vor ein paar Stunden gegangen und meinte, er komme gleich wieder. Seither ist er nicht mehr aufgetaucht“, sagte die Sekretärin trocken. In dem engen Vorraum warteten auf durchgesessenen Sofas Männer mit indigenen Gesichtern, gelbe Dokumentenmappen auf dem Schoss. Ein ständiges Kommen und Gehen. Nur eine Stunde später war er dann schon da, der Generalsekretär, und empfing mich in seinem Büro, unter den kolorierten Bildern des Präsidenten Evo Morales und der Befreiungshelden Simon Bolivar und José Antonio Sucre. Nach zehn Minuten fürchtete ich, er würde mich rausschmeißen. Sein Misstrauen legte sich dann aber, und er erzählte seine Version des Konflikts.
Anderntags, nach einem weiteren Gespräch in der Defensoría, besuchte ich die drei Anwälte der Bergwerksfirma, die in den Konflikt verwickelt ist. Nach einer Stunde in dem Büroverschlag kapierte ich gar nichts mehr, nach anderthalb weiteren Stunden sah ich dann endlich klarer.
An der Grenze zum Departamento Cochabamba, 25 Kilometer außerhalb der Stadt, liegt das Bergwerk Santa Maria. Das ist keine technische Anlage, sondern ein Flecken Erde, in dem Männer tiefe Löcher bohren, runtersteigen und mit primitivem Gerät und unter Todesgefahr Gestein herausholen. „Da geht man nur runter, wenn man vorher ordentlich gesoffen hat“, sagte einer der Anwälte.
Das Bergwerk beschäftigte anfangs zu gleichen Teilen Arbeiter aus drei umliegenden Orten: Pumiri, Yunguma und Puna Huaylluma. Eines Tages verprügelten zwei Arbeiter aus Puna Huaylluma einen Kollegen und wurden rausgeschmissen. So fing es vor fünf Jahren an. Die Bilanz bis heute: Zwei gewaltsame Besetzungen des Bergwerksgeländes unter Einsatz von Dynamit, Mausergewehren und Sprenggeschossen, Straßenschlachten, Folterungen, mehrere Tote, unzählige Verletzte, eine Gruppenvergewaltigung, eine Entführung und ein Fall von Beinahe-Lynchjustiz. Ein Zivil-, sieben Strafprozesse und drei Verwaltungsverfahren, alle offen. Das Bergwerk arbeitet übrigens schon seit langem nicht mehr. Na ja, und inzwischen ist der Zinnpreis wahrscheinlich ohnehin im Keller.

Hinterher saß ich in meinem mittelprächtigen Hotel im zweiten Stock in einer Sofaecke, schaute durch das schmutzige Panoramafenster dem Treiben auf dem Busbahnhof zu und versuchte, mein Grauen zu besänftigen. Dabei fiel mir ein, dass ich in La Paz in dem dürftigen Dokumentenhaufen über die Konflikte im Land auch einen gefunden hatte, in den das selbe Dorf, Puna Huaylluma, verwickelt ist. Die Bewohner hatten plötzlich angefangen, auf den Gemeinschaftsfeldern eines Nachbardorfes Quinua zu klauen und zu behaupten, das sei von alters her das Gemeinschaftsfeld ihres Dorfes gewesen. Man könnte ja fast lachen über diesen Fall, aber auch dabei ist es ziemlich roh zugegangen.
Wie kommt es, dass ein Konflikt so eskaliert? Im Fall des Bergwerks gibt es einige recht nahe liegende Erklärungen. Dabei geht es um Verwandtschaftsbeziehungen, ideologische Feindschaften und um die Abwesenheit von Staat und Rechtsstaat. Die Polizei zum Beispiel weigert sich, das Bergwerk und die Arbeiter zu schützen oder in eine Straßenschlacht auch nur einzugreifen. „Ein Bergarbeiter aus Puna Huaylluma macht zehn von unseren Männern fertig“, sagt der Kommandant. Er zog es vor, immer dann von der Bildfläche zu verschwinden, wenn die Polizei gerufen wurde. Der Anwalt urteilt über das Dorf Puna Huaylluma: „Das sind Wilde.“ Weil ich es nicht selbst überprüfen will, lass ich das mal so stehen.
Auf der Rückfahrt durch die Hochebene, vorbei an kleinen Dörfern und atemraubenden Landschaftsbildern, fragte ich mich, ob ich mich nicht doch besser für den Karneval interessieren sollte. Als ich anderntags die Zeitung aufschlug, wusste ich: Nein. Um den Karneval 2009 ist in Oruro gerade ein heftiger Konflikt entbrannt.


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