Dienstag, 21. Oktober 2008

Ein historischer Moment









Im Taxiradio sang der kubanische Barde Silvio Rodriguez gerade „La Masa“, während wir vom Flughafen in El Alto, das auf dem Bergplateau in 4061 Metern Höhe liegt, in den Talkessel nach La Paz hinabfuhren. Auf eben der Straße, auf der am selben Tag mehr als 70.000 Bauern, Arbeiter und Indigene aus der Provinz nach einem neuneinhalbtägigen Fußmarsch in die Stadt marschiert waren. Nun campierten sie auf dem Platz vor dem Kongress, um die Abgeordneten dazu zu zwingen, sich in einer 18-stündigen Marathonsitzung endlich in einer Abschlussabstimmung über die neu ausgearbeitete Verfassung zu einigen.
Es war Mitternacht, sternenklarer Himmel, und als ich in meiner Übergangsherberge ankam, wenige Blocks vom Kongress entfernt, hörte ich die Massen in der Dunkelheit singen und die Bergarbeiter in regelmäßigen Abständen Dynamit zünden, und da wurde ich furchtbar sentimental. Für Bolivien war diese Montagnacht ein historischer Moment.
Bis zum Nachmittag war nicht klar gewesen, ob das Land in einen Bürgerkrieg schlittern würde. Wenige Wochen zuvor waren 19 Bauern massakriert, Büros von Menschenrechtsorganisationen und Zentralpolizei überfallen und verwüstet worden, es kursierten Gerüchte über militärische Pläne, es wurden Krisenszenarien gemalt, und die Tieflandpräfekten, die das Recht auf Autonomie durchsetzen wollten, hetzten noch schärfer gegen die Zentralregierung von Evo Morales. Aerosur hatte am Montag schließlich die Flüge nach La Paz eingestellt, es war nicht klar, ob es zu einem Blutbad kommen würde. Um drei fand dann die noch vertrauliche Nachricht auf verschlungenen Wegen aus der Verhandlungskommission in das lokale DED-Büro in Santa Cruz: Regierung und Opposition haben sich geeinigt, es stünden nur noch Details zur Verhandlung, wir können fliegen.
Da stand ich also anderntags unter stahlblauem Himmel auf der Plaza Murillo vor dem Kongress zwischen den Bauern, Arbeitern und Indigenen, die in der Kälte der Nacht ausgeharrt und verhindert hatten, dass die Abgeordneten das Parlament verließen, bevor sie sich geeinigt hatten, bevor der letzte Artikel der neuen Verfassung verlesen war und ein Termin für die Volksabstimmung feststand. Musikgruppen spielten, die Menschen tanzten, Fahnen wurden geschwenkt, Wurstsemmeln aus Autos gereicht, eine alte Bäuerin hielt von einem offenen Laster herab eine Rede über die Bedeutung der Frauen bei der Transformation des Staates, und als mich jemand fragte, wie es mir geht, konnte ich nur sagen: „Ich freue mich mit und für diese Menschen.“
Die neue Verfassung, über die am 25. Januar abgestimmt wird, garantiert zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, dass die gesamte Bevölkerung am Staat teilhaben kann. „Wir, das bolivianische Volk, von seiner Zusammensetzung vielfältig und inspiriert von den Kämpfen der Vergangenheit, von den indigenen Aufständen gegen die Kolonialherrschaft, von der Unabhängigkeit, von den Befreiungskämpfen, von den sozialen, indigenen und gewerkschaftlichen Protesten, vom Wasser- und vom Oktoberkrieg, von den Kämpfen um Land und Territorium, wir werden aus den Tiefen der Geschichte und im Gedenken an unsere Märtyrer einen neuen Staat bauen. Wir lassen den kolonialen, den republikanischen und den neoliberalen Staat hinter uns“, heißt es in der Präambel.
In 411 Artikeln verpflichtet sich der neue „Estado Unitario Social de Derecho Plurinacional Comunitario“ dem Wohl seiner Bürger, gleich welcher Herkunft, und sechs ethisch-moralischen Prinzipien, die aus der andinen Weltsicht stammen und sich durch die Übersetzung alleine nicht unbedingt erschließen: ama qhilla, ama llulla, ama suwa (Du sollst nicht faulenzen, lügen und stehlen), suma qamaña (gut leben), ñandereko (harmonisch leben), teko kavi (gutes Leben), ivi maraei (Erde ohne Böses), qhapaj ñan (edler Weg).
Ein historischer Moment. Ein Anfang nur. Der Umbau des Staates wird mindestens zehn Jahre beanspruchen. Nach der Volksabstimmung im Januar nächsten Jahres werden die Bolivianer im Dezember 2009 Präsident und Kongress neu wählen, im April 2010 Bürgermeister und Provinzpräfekten. Es müssen neue Gesetze erlassen, die alten an die Verfassung angepasst und all die guten Vorsätze mit Inhalt gefüllt werden. „Der Umbau eines Staates ist wie eine Geburt. Das geht nicht ohne Schmerzen“, sagte Ana María Romero de Campero, die ehemalige Defensora del Pueblo, vor einer Woche auf einer Veranstaltung. Vielleicht hat Bolivien ja die schlimmsten Wehen schon hinter sich.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Liebe Uschi!!
Ich freue mich mit diesen Menschen und hoffe und wünsche ihnen das all ihre Wünsche und Hoffnungen in Erfüllung gehen werden.

Gleichzeitig muß ich aber gestehen das ich wegen dieser GEschichte eigentlich über dein Wohlergehen besorgt bin. Ich hoffe das es nicht zu Ausschreitungen kommen wird in der Zeit in der du dort bist. ( ich hoffe du verstehst was ich sagen will!)

Der Artikel ist super.

viele liebe Grüße

Gisela mit Rainer und Juliane ( die übers Wochenende eine eitrige Mandelentzündung mit viel Fieber hatte, aber dank Tee und Homöopathie morgen wieder in die Kiga kann!!!)